Auf einmal mittendrin

JESSICA TATTI, ERSTE REUTLINGER BUNDESTAGSABGEORDNETE DER LINKEN, VOR DEM BERLINER REICHSTAGSGEBÄUDE

Politik – Jessica Tatti von der Linken hat die ersten Wochen als neue Bundestagsabgeordnete in Berlin hinter sich
VON ULRIKE GLAGE (GEA, 02.11.2017)

REUTLINGEN. Im Mai besuchte Jessica Tatti Berlin und natürlich das Reichtagsgebäude. Nicht als Touristin, sondern als Kandidatin der Linken für den Wahlkreis Reutlingen. Beim Blick von der Kuppel in den Plenarsaal dachte sich die 36-Jährige, dass der auch nicht viel größer ist als der Sitzungssaal im Reutlinger Rathaus. Inzwischen weiß sie es besser. »Der ist schon viel, viel größer«, lacht sie: Die Zeit der Vorstellung ist vorbei, Jessica Tatti ist in der Realität als gewählte Abgeordnete angekommen. Wie sich das anfühlt? »Das weiß ich erst, wenn der Alltag beginnt.«
Alltag ist das Leben als Bundestagsabgeordnete für Jessica Tatti noch nicht. Sie ist viel auf Achse, pendelt mit der Bahn zwischen Reutlingen und Berlin. Dort nächtigt sie auf der Couch bei Freunden in Neukölln. »Ich bin froh, dass ich diese Möglichkeit in der Übergangszeit habe«, sagt sie.
Noch hat die Wohnungssuche Priorität C. Denn die Einsteigerin in die große Politik halten derzeit ganz andere Dinge auf Trab. »Es sind unfassbar viele strukturelle Sachen, die zu erledigen sind.« Ein Abgeordnetenbüro hat sie schon, doch das muss auch eingerichtet werden. Wer gibt die Computer aus, wo sind die Schlüssel, wo die Ausweise? Seit gestern, 1. November, steht ihr eine Büroleiterin zur Seite, die sich auskennt mit den Banalitäten im parlamentarischen Alltagsgeschäft und helfen kann bei der Orientierung im »Riesenkasten« Parlament. »Die weiß mehr als ich«, sagt die 36-Jährige und grinst.


»Ich hätte mir einen schöneren Start als neue Abgeordnete vorstellen können«
Eine hauptamtliche Kraft zu haben, die einem zuarbeitet – das ist für Jessica Tatti eine neue Erfahrung. Im Linken-Kreisverband oder im Reutlinger Gemeinderat wird Politik schließlich rein ehrenamtlich gemacht. »Das ist eine neue Ebene der politischen Arbeit«, stellt die Neuparlamentarierin fest, ganz ohne Bewertung. Wie auch: Im Moment ist sie damit beschäftigt, sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen und zu verstehen, wie die Strukturen verlaufen. »Es muss nachher gut funktionieren und möglichst wenig Reibungsverluste geben.«
Das Sich-Rantasten gilt auch für ihre Arbeit in der Linken-Fraktion. 69 Frauen und Männer, darunter Urgesteine wie Gregor Gysi oder die schillernde Frontfrau Sahra Wagenknecht. Jessica Tatti ist in guter Gesellschaft, 40 Prozent der Fraktionsmitglieder sind Neulinge. In der ersten Klausursitzung schepperte es schon ordentlich, der Zoff zwischen den Fraktions- und den Parteivorsitzenden sorgte für Schlagzeilen. »Ich hätte mir einen schöneren Start als neue Abgeordnete vorstellen können«, sagt Tatti. Den Konflikt bewerten oder gar Partei ergreifen will sie nicht. »In der Politik ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen«, meint sie nur. Man habe einen Kompromiss gefunden, der Grundlage für die gemeinsame Arbeit sei. »Wir werden geschlossen für soziale Gerechtigkeit eintreten.« Ihr Blick geht nach vorn: »Ich wünsche mir, dass wir mit unseren Inhalten genauso stark in der Presse vertreten sein werden.«
Ansonsten sei sie freundlich aufgenommen worden in der Linken-Fraktion. »Man lernt sich kennen, es ist eine Atmosphäre des Ankommens.« In der konstituierenden Sitzung des Bundestags am 24. Oktober fühlte sich das schon anders an. Ein großer, ein denkwürdiger Tag für die Reutlingerin. Der lange Wahlkampf, der Wahlsonntag am 24. September mit der Gewissheit am Ende, dass sie es geschafft hat – und auf einmal sitzt sie mittendrin. »Das war der Moment, in dem es Realität geworden ist.« Aber auch diesmal keiner mit Frieden, Freude, Eierkuchen. »Zu sehen, wie die AfDler Platz nehmen, das hat mich wirklich bedrückt«, sagt sie.
Nicht nur aus diesem Grund empfand Jessica Tatti die konstituierende Sitzung nicht als Sternstunde: Die Eröffnungsrede von Hermann Otto Solms bezeichnet sie schlicht als missglückt. »Da hätte ich mir mehr erhofft.« Haltung zum Einzug der AfD nämlich. Man müsse das Wahlergebnis akzeptieren, hatte der FDP-Politiker gesagt, und vor Ausgrenzung und Stigmatisierung gewarnt. »Ich bin überhaupt nicht dort, um das zu akzeptieren, sondern um mich für eine solidarische Gesellschaft einzusetzen.« Was sie maßlos ärgerte: die Gleichsetzung von Linken und Rechten durch Redner anderer Fraktionen. »Und das am ersten Tag, an dem Rassisten in den Bundestag einziehen.«
»Da war viel Wehmutdabei, ich hab’den Job ja sehr gerne gemacht«
Der Alltag als Abgeordnete wird Jessica Tatti bald einholen. Ein bis drei Mal im Monat sind Sitzungswochen: Montags bis freitags Arbeit in der Fraktion, in Ausschüssen, diversen Arbeitskreisen. Und natürlich das Plenum. In welchen Ausschuss sie kommt, entscheidet sich erst, wenn die Regierung steht. Die Abgeordneten können Wünsche einbringen. Soziales, Arbeits- und Wirtschaftspolitik sind die Themen, die Jessica Tatti am liebsten beackern würde.
Den Schritt raus aus ihrem alten Berufsleben hat sie bereits hinter sich: die offizielle Verabschiedung in der Kirchheimer Flüchtlingsunterkunft, in der sie als Sozialarbeiterin beschäftigt war. Jetzt ruht der Arbeitsvertrag. »Da war viel Wehmut dabei, ich hab’ den Job ja sehr gerne gemacht«, sagt die 36-Jährige über den Tag, der für sie schön und traurig zugleich war. Ihr ist es wichtig, die Kontakte zu halten. Schon deshalb, weil Flüchtlingsarbeit und -politik »ein großes und bedeutendes Feld ist«. Sie befürchtet, dass es wie andere soziale Themen in einer Jamaica-Koalition »hinten runter kippt«. Und findet es umso wichtiger, als Linke eine starke soziale Opposition im Bundestag zu bilden.
In Berlin sucht Jessica Tatti eine Wohnung, in Reutlingen ein Wahlkreisbüro. Zwischen den Sitzungswochen wird sie vor Ort sein. Ob sie es dann noch schafft, ihr Gemeinderatsmandat wahrzunehmen, lässt sie offen: Sie berate sich intern und werde in Kürze eine Entscheidung bekannt geben.
Eines steht für sie aber fest: Als Parlamentarierin wird sie nicht abheben. »Alle politischen Ebenen sind gleich wichtig«, sagt die Reutlingerin und schließt die Umsetzung bundes- und landespolitischer Gesetze vor Ort explizit mit ein. Mehr noch. Politiker, sagt sie, seien sich nirgends näher als auf kommunaler Ebene und im Gemeinderat. »Wir reden alle mit den gleichen Bürgern, Vereinen, Organisationen.«
In Reutlingen werde in der Sache zwar hart gestritten, sagt Jessica Tatti, die zu den kompromisslosesten Streiterinnen im Gemeinderat zählt. »Aber es begegnen sich Menschen und wir haben alles in allem eine schöne Umgangskultur. Da weht in Berlin sicher ein rauerer Wind.« Das klingt versöhnlich. Nach Loslassen und Aufbruch. (GEA)

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