Aus aktuellem Anlass – Interview mit Sabine Leidig

„Junge Welt“ 08.12.2010 / Inland / Seite 2
»Das war ein Kniefall vor den Mächtigen«
Auch nach der Schlichtung gibt es Gründe gegen »Stuttgart 21«.

Ein Gespräch mit Sabine Leidig von Daniel Behruzi
Sabine Leidig ist verkehrspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag

Am Samstag (11.12.2010) findet eine überregionale Demonstration gegen »Stuttgart 21« statt. Warum sollte es nicht nur die Menschen in Baden-Württembergs Landeshauptstadt interessieren, ob dort ein Tiefbahnhof gebaut wird?
Aus zwei zentralen Gründen: Zum einen geht es um die demokratische Kultur, um die Frage, wer eigentlich bestimmt, wie die Infrastruktur unseres Landes gestaltet wird und wofür Steuergelder verwendet werden. Ist es die Bahn? Ist es Heiner Geißler? Sind es die mehr oder weniger stark mit Konzerninteressen verbandelten Politiker und Parteien? Oder sind es die Betroffenen selbst, die Menschen, die dort leben – der eigentliche Souverän? Der zweite wichtige Grund ist, daß bei einer Realisierung dieses Mammutprojekts enorm viel Geld gebunden würde, das anderswo für die Gestaltung eines vernünftigen Bahnverkehrs fehlt. Es gibt im Schienennetz viele Schwachstellen, deren Beseitigung sinnvoller wäre als »Stuttgart 21«.

Was haben die Proteste bislang bewirkt?
Selbst die FDP sagt mittlerweile, daß es Planungsverfahren wie bei »Stuttgart 21« nicht mehr geben darf. Es kann nicht angehen, daß ein solches Megaprojekt hinter verschlossenen Türen entschieden und danach nur noch verkündet wird, ohne daß die Menschen wirklich Alternativen vorschlagen können. Dagegen muß man auch weiter auf die Straße gehen. Alles, was erreicht wurde – jedes bißchen Transparenz, jedes Gutachten, das aus der Schublade gezogen werden mußte, jedes Argument, das widerlegt wurde – all das konnte nur gelingen, weil die Protestbewegung auf der Straße Druck entwickelt hat.

Die Bahn-Vorstände und die etablierten Politiker geben sich jetzt geläutert und geloben bei künftigen Entscheidungen Transparenz. Ist das ernst zu nehmen?
Bislang überhaupt nicht. Ein Teil der Politiker erhofft sich offenbar eine Art Befriedung von Protest und Widerstand gegen so fragwürdige Projekte. Andere reden jetzt so, weil man angesichts der geschaffenen Öffentlichkeit im Moment nicht anders auftreten kann. Und wiederum ein anderer Teil, zu dem insbesondere Die Linke zählt – vielleicht auch ein Teil der Grünen –, beginnt daran zu arbeiten, neue Wege demokratischer Teilhabe und Transparenz zu entwickeln.

Wie bewerten Sie den Schlichterspruch von Geißler und die Gespräche der vergangenen Wochen?
Die Tatsache, daß es überhaupt zu so einer Veranstaltung gekommen ist, die dann Schlichtung genannt wurde, ist ein großer Erfolg. Die Argumente der Gegner sind bei den im Fernsehen übertragenen Gesprächen voll und ganz bestätigt worden. Vor diesem Hintergrund muß man klar sagen, daß Geißlers Schlichterspruch ein Kniefall vor den Mächtigen ist. Er selbst hat in seiner abschließenden Argumentation mindestens zehn Punkte aufgezählt, warum dieses Projekt totaler Murks und völlig undemokratisch ist. Dennoch sagt er am Ende, der Tiefbahnhof müsse trotzdem gebaut werden, erstens weil schon zuviel Geld investiert wurde und zweitens weil die Bahn sonst mit Klage droht. Diese Begründungen halte ich für skandalös. Denn das bedeutet zum einen, daß undemokratische Prozesse vorangetrieben werden, indem man einfach damit beginnt. Zum anderen ist es völlig inakzeptabel, wenn die Bahn als zu 100 Prozent öffentliches Unternehmen den Bürgerinnen und Bürgern mit Klage droht.

Das von Geißler vorgeschlagene »Stuttgart 21 plus« ist demnach keine Alternative?
»Stuttgart 21 plus« heißt, wie der Name schon sagt: »Stuttgart 21« plus noch mehr Geld. Die sogenannten Verbesserungsmaßnahmen würden zwar einige grobe Schwachstellen beseitigen – falls sie denn umgesetzt würden. Aber man braucht dieses ganze Wahnsinnsprojekt nicht. Das jetzt trotzdem zu machen – und dann noch aufwendiger – halte ich auch volkswirtschaftlich für unverantwortlich.

Ursprünglich sollten die Gespräche nur »Faktenschlichtung« sein, also lediglich zur Klärung der Tatsachen dienen.
Das war keine »Tarifverhandlung«, bei der es um einen Kompromiß ging. Geißlers Spruch ist deshalb anmaßend und nicht akzeptabel. Mit diesem Ergebnis werden sich viele Leute nicht abspeisen lassen. Die Auseinandersetzung um »Stuttgart 21« wird weitergehen.

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