Neujahrsempfang – Kampf gegen Ungleichheit

ZWEI, DIE SICH SCHÄTZEN: DIE REUTLINGER BUNDESTAGSABGEORDNETE JESSICA TATTI (LINKS) UND GESINE LÖTZSCH, LANGJÄHRIGE ABGEORDNETE UND STELLVERTRETENDE FRAKTIONSVORSITZENDE DER LINKEN IM BUNDESTAG. FOTO: NIETHAMMER

VON ULRIKE GLAGE – GEA 11.01.2019

Linke – Neujahrsempfang mit Dr. Gesine Lötzsch und vielen Gästen. Einstimmung auf Kommunalwahlen

REUTLINGEN. »Ich glaube, wir brauchen ein größeres Wahlkreisbüro«, sagte Jessica Tatti augenzwinkernd zum Auftakt des Neujahrsempfangs der Linken mit Blick auf den proppenvollen Saal, die dicht umlagerten Stehtische und die bis in den Flur hinein stehenden Gäste. Die Reutlingerin blickte nicht nur zurück auf ihr erstes Jahr als Bundestagsabgeordnete, sondern wie Festrednerin Dr. Gesine Lötzsch auch nach vorn: auf die anstehenden Kommunalwahlen. Und da wollen die Linken im Gemeinderat und Kreistag ordentlich zulegen. Ein geräumigeres Büro könnte also durchaus notwendig werden.

Außer Parteifreunden waren Stadt- und Kreisräte fast aller Fraktionen gekommen, Sozialbürgermeister Robert Hahn, Vertreter aus dem sozialen und kulturellen Bereich, Gewerkschafter. Und, so Tatti: »Es gibt gewisse Chancen, dass der nächste Oberbürgermeister unter uns ist.« Denn bis auf CDU-Kandidat Dr. Christian Schneider und Andreas Zimmermann (Die Partei) waren alle Anwärter aufs OB-Amt zum Neujahrsempfang gekommen.

Der begann rockig mit »Madaus und Band« und insofern unüblich, als es den Begrüßungsdrink schon vor den Ansprachen gab. Den gut gelaunten Gästen gab Jessica Tatti einen persönlichen Einblick ins vergangene Jahr. »Es war politisch sehr turbulent und hat mein Leben verändert.« Inzwischen sei sie angekommen in ihrem »neuen« Leben als Bundestagsabgeordnete. In Berlin, aber auch in ihrem Wahlkreis Reutlingen: »Als ehemalige Stadträtin ist es mir wichtig, Ansprechpartnerin vor Ort zu sein.«

Als Glücksfall bezeichnete es Jessica Tatti, dass sie genau in den Ausschuss kam, in den sie unbedingt wollte: den für Arbeit und Soziales. Hier wie in der Enquete-Kommission »Künstliche Intelligenz«, in der sie ebenfalls Mitglied ist, gehe es um zukunftsträchtige Themen. »Da ist eine Politik gefragt, die die Transformation der Gesellschaft sozial gestaltet.« Arbeit müsse gerechter verteilt werden, etwa durch Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich.

 

Ein Kernthema von Tatti und ihrer Partei ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. »Es braucht mehr sozialen und genossenschaftlichen Wohnungsbau, also auch mehr staatliche Investitionen.« Der Markt allein richte gar nichts, im Gegenteil. Die Stadt Reutlingen habe versagt: Hätte der Gemeinderat der von den Linken vorgeschlagenen 30-Prozent-Sozialquote bei Neubauten zugestimmt, sähe die Situation anders aus. Die Kommune müsse die Möglichkeiten nutzen, die sie habe – und die GWG wieder als politisches Handlungsinstrument zu nutzen. »Wir wollen, dass Ihr Euch im Falle Eurer Wahl dafür stark macht. Die Linke wird Euch daran messen«, rief sie den OB-Kandidaten zu.

»Wir werden alles daran setzen, dass wir wieder Fraktionsstärke bekommen«

»Ich rechne nicht damit, dass 2019 ein einfacheres Jahr wird«, meinte Tatti. Das Wirtschaftshoch werde wohl nicht länger anhalten. Umso mehr setze sich die Linke für soziale Gerechtigkeit, für einen starken Sozialstaat und eine Politik »für die Mehrheit der Menschen in diesem Land« ein. Deshalb seien die anstehenden Kommunalwahlen enorm wichtig. »Wir werden alles daran setzen, dass wir wieder Fraktionsstärke bekommen.«

Bernhard Strasdeit, Landesgeschäftsführer der Linken und Kreisrat in Tübingen, ging hart mit der Landesregierung ins Gericht, der er eine »familien- und kinderfeindliche Politik« vorwarf. Linken-Stadtrat Rüdiger Weckmann lobte den fairen und sachlichen Umgang im Gemeinderat, der alles andere als selbstverständlich sei: Das Diskussionsklima habe sich vor allem in den sozialen Medien dramatisch verschlechtert. Wie Tatti ging er auf den sozialen Wohnungsbau ein, der Schwerpunkt im Kommunalwahlkampf sein werde. Seine Mitstreiterin im Gemeinderat Carola Rau gab ebenfalls als Ziel aus, mindest Fraktionsstärke zu erreichen. »Aber wir können uns auch verdoppeln.« Die Bekämpfung der Wohnungsnot sei auch auf dem Land eklatant, deshalb müsse die Gründung einer Kreisbaugenossenschaft forciert werden, erklärte Linken-Kreisrätin Petra Braun-Seitz. Sie forderte ferner günstigere Schüler- und Sozialtickets.

Fast eine Stunde war vergangen. »Jetzt stehe nur noch ich zwischen Ihnen und dem Buffet«, sagte Hauptrednerin Dr. Gesine Lötzsch, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag. Dass die Reutlinger Jessica Tatti in den Bundestag gewählt hätten, sei eine gute Sache. Man merke ihr das Engagement an, sie finde klare Worte. »Es ist wichtig, dass die Leute die Politiker verstehen.« Klare Worte fand auch die temperamentvolle Berlinerin.

Nicht die Flüchtlinge seien das größte Problem in Deutschland, sondern Ungleichheit und ungerechte Verteilung. Trotz stabiler Konjunktur habe sich die Armut in Deutschland verfestigt. Sie forderte den 12-Euro-Mindestlohn, wunderte sich, dass sich das reiche Baden-Württemberg nicht wie das »arme Berlin« den kostenlosen Schüler-ÖPNV oder gebührenfreie Kitas leisten könne und plädierte für eine Überwindung des Kapitalismus. »Unsere Art zu Wirtschaften halten wir nicht aus und die Erde auch nicht.« Mit einem »Auf den Frieden, die Linke und Jessica« schloss Gesine Lötzsch den offiziellen Teil. (GEA)

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