Bundestagskandidatin Anne Zerr im GEA Interview

REUTLINGEN. »Als ich vom Kreisvorstand gefragt wurde, ob ich für eine Kandidatur zur Verfügung stehe«, hat die Sozialwissenschaftlerin, die ihre Brötchen als Gewerkschaftssekretärin bei Verdi verdient, nicht lange gezögert. Zwei, drei Mal musste sie zwar drüber schlafen, doch dann stand fest: »Ich mach’s« – weil aus ihrer Sicht im Staate Deutschland bedauerlicherweise manches faul ist.

Dass die Kluft zwischen Mittellos und Reich immer größer wird, dass Multimillionäre ihre Vermögen ausbauen, derweil immer mehr Menschen aus der Mittelschicht inflationsbeschleunigt und wegen allzu hoher Mieten in die Armut abzurutschen drohen – dies mitzuerleben, ist für Anne Zerr, die am Donnerstagabend bei der Nominierungsversammlung der Reutlinger Linken einmütig mit 18 Ja-Stimmen zur Bundestagsbewerberin gekürt wurde, unerträglich. Deswegen will sich Zerr aktiver denn je politisch einmischen und der Sozialgerechtigkeit auf die Sprünge helfen.

„Hauptsache, wir kommen rein. Darauf baue ich“

Wobei es für die 31-Jährige eine eher untergeordnete Rolle spielt, ob sie künftig in Berlin wirkt oder ihre Stimme weiterhin in Reutlingen für Benachteiligte erhebt. »Klar, will ich in den Bundestag«, sagt sie. »Wenn aber andere Genossen am 23. Februar besser abschneiden und Mandate übernehmen«, ist das für die gebürtige Stuttgarterin ebenfalls okay. Ihr Credo: »Hauptsache, wir kommen rein. Darauf baue ich.« Denn Deutschland brauche das linke Korrektiv mehr denn je.

Noch gab es bei der Linkspartei keine Konferenz, in deren Rahmen Listenplätze vergeben worden wären, noch ist also für Anne Zerr nicht absehbar, ob sie mit Beginn des neuen Jahres in einer aussichtsreichen Position wahlkämpferisch durchstarten kann. Dessen ungeachtet trommelt sie schon jetzt für mehr Sozialstaatlichkeit und weniger Politikverdrossenheit.

Ob sie selbst keinen solchen Verdruss kennt? Doch, durchaus. Hat sich der innerparteiliche Zoff rund um den geräuschvollen Abgang von Sarah Wagenknecht und ihrer Anhängerschaft doch etwas »demoralisierend« auf die ansonsten bemerkenswert dynamische Powerfrau ausgewirkt. »Für mich«, verrät Anne Zerr, »war es deshalb wie ein Befreiungsschlag, als der zermürbende Streit endlich beigelegt und das BSW gegründet war.«

»Soziale Arbeit muss uns deutlich mehr wert sein«

Kurios: Obschon die Scharmützel nicht eben »sexy« zu nennen waren, haben sie der Linkspartei in Baden-Württemberg habhaften Mitgliederzuwachs beschert. Wie ein Weckruf sei die Abspaltung der Wagenknecht-Gruppe für viele gewesen: insbesondere für zuvor parteibuchlose Sympathisanten der Linken, die prompt zu Neumitgliedern wurden und für Verjüngung und Verweiblichung gesorgt haben.

Das beflügelt. Denn seither, so Zerr, liege eine inspirierende und mitreißende Aufbruchstimmung in der Luft, die auch die Kandidatin beseele und sich bei ihr als Wahlkampf-Booster bemerkbar macht.

Und genau diesen Elan möchte die 31-Jährige in den Kreis Reutlingen tragen: über digitale Kanäle, aber ganz betont auch auf der Straße und an den Haustüren. Denn Infostände und Klinkenputzen sind ihr Ding. Zerr möchte nicht über, sondern mit den Menschen reden. Sie will »genau hinhören, den direkten Austausch suchen«, um dabei Handlungsfelder ausloten, die es für die Linkspartei künftig in Berlin zu beackern gilt.

Schon heute, weiß Anne Zerr, zeichnen sich Problemlagen ab, die zwingend ins Hohe Haus getragen werden müssen. Etwa die »Reformierung der Schuldenbremse«; ein Instrument, das die Gewerkschaftssekretärin in seiner aktuellen Form als »Investitionsbremse« bezeichnet. »Geld«, erklärt sie, sollte »umverteilt« werden. Eine »antifaschistische Wirtschaftspolitik« sei das Gebot der Stunde. Und: »Soziale Arbeit muss uns deutlich mehr wert sein, als bisher.«

»Soziale Ungerechtigkeit hat mich schon sehr früh sehr wütend gemacht«

Es gehe nicht an, findet die Bundestagskandidatin, dass beispielsweise Schulsozialarbeit oder Streetworking mehr und mehr dem Rotstift zum Opfer fallen. Wer an diesen Stellen spare, mahnt sie, werde das bald bitter bereuen. Nämlich dann, wenn aus Problemkindern Straftäter oder Drogenkranke geworden sind, die Vater Staat deutlich teurer kommen, als sozialpädagogisch beschlagene Präventions-Profis. Was das betrifft, kann Anne Zerr übrigens aus beruflicher Erfahrung sprechen. Stand sie vor ihrer Verdi-Tätigkeit doch an einer Pforzheimer Schule als Sozialarbeiterin in Lohn und Brot.

Doch woher rührt eigentlich ihr ausgeprägtes Interesse an (Sozial-)Politik? Präzise sagen lässt sich das nicht. Wiewohl »mich soziale Ungerechtigkeit schon sehr früh sehr wütend gemacht hat«. Mit 14 Jahren mischte Anne Zerr deshalb bei Unicef mit. Später brachte sie sich bei Amnesty International ein. Immer gab eine gehörige Portion »Bauchgefühl« den Ausschlag für ihr Aktiv-Werden und das Bedürfnis, Einsatz nicht »nur« für Benachteiligte zu bringen, sondern dezidiert mit ihnen.

»Alle wollen regieren, wir wollen verändern. Dazu braucht es Druck von unten«

Darum ist sie jetzt von Haustür zu Haustür unterwegs, erteilt Ausflüchten wie »Mit-Politik-hab’-ich-nichts-am-Hut« eine klare Absage und setzt sich damit in aller Regel durch. Denn wenn Angesprochene erkennen, dass ihre ganz persönlichen Alltagsprobleme schiere Politik sind, ist das Eis meist schnell gebrochen.

»Alle wollen regieren, wir wollen verändern«, betont Anne Zerr. »Dazu braucht es Druck von unten.« Und der wiederum beginnt an der Wahlurne. Weshalb die 31-Jährige reichlich Energie in die aufsuchende Überzeugungsarbeit steckt. So, wie das Vertreter der Linken überall in Deutschland tun. »Bundesweit haben wir bereits über 60.000 Gespräche geführt«, nennt die Kandidatin eine beeindruckende Hausnummer. Positiv auffallend dabei: »Ein Drittel der Dialoge kratzt nicht bloß an der Oberfläche. Das ist ermutigend.« (GEA)

Originalartikel im GEA: https://www.gea.de/reutlingen_artikel,-womit-reutlingens-linke-bundestagskandidatin-im-wahlkampf-punkten-m%C3%B6chte-_arid,6979228.html

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