Europas Schande – von Sahra Wagenkecht

Die Kürzungsdiktate zerstören die Wirtschaft in den Krisenstaaten und vernichten Millionen Arbeitsplätze. Nun will Wirtschaftsminister Rösler auch noch die talentiertesten Jugendlichen aus Südeuropa abwerben.Mit Solidarität hat das nichts zu tun.

Die Europäische Union (EU) hat seit der Krise 4,5 Billionen Euro in Schrottbanken gepumpt, statt Eigentümer und Gläubiger in Haftung zu nehmen. Die Wirtschaft in den Krisenstaaten wurde gleichzeitig über Kürzungsdiktate zerstört.

Damit schafft die EU eine verlorene Generation. Etwa ein Viertel der Jugendlichen ist ohne Arbeit. In den Krisenstaaten schwankt dieser Wert zwischen 30 Prozent in Irland, 42 Prozent in Portugal, 56 Prozent in Spanien und aktuell 62 Prozent in Griechenland. Das ist eine Schande. Die Demokratie wird unter der Diktatur der Finanzmärkte begraben und die Jugend um ihre Zukunft betrogen.

Die Abwerbeinitiative des Bundeswirtschaftsministers Philipp Rösler (FDP) ist daher zynisch. Erst zerstören Barroso, Merkel & Co die Wirtschaft in den Krisenstaaten und vernichten Millionen Arbeitsplätze, dann werden die talentiertesten Jugendlichen abgeworben. Es geht der Bundesregierung nicht darum, junge Menschen zu unterstützen, die ihren Horizont erweitern und aus freien Stücken eine gute Arbeit in Berlin, Paris oder Madrid suchen. Es geht um Migration aus Not. Von dem »Angebot« des Wirtschaftsministers profitieren wieder einmal Unternehmen: De facto sollen schlecht bezahlte Praktika und Lehrstellen über Lohnkostenzuschüsse aus nicht abgerufenen EU-Mitteln beziehungsweise Steuergeldern subventioniert werden.

Wenn Rösler behauptet, es fehle nicht an Ausbildungsplätzen in Deutschland, sondern an Fachkräften, so ist das eine Ohrfeige für Hunderttausende Schulabgänger ohne Perspektive. Es geht dabei insbesondere um Jugendliche mit Migrationshintergrund und Mädchen, die nur geringe Chancen auf berufliche Bildung haben. Nach internen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit sind etwa eine Million Menschen zwischen 15 und 35 Jahren in Deutschland ohne Arbeit, die Hälfte davon hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Insgesamt zählen 2,2 Millionen Menschen unter 35 Jahren zu den Ungelernten. Daher brauchen wir die Ausbildungsplatzumlage: Unternehmen, die nicht hinreichend ausbilden, aber von Fachkräften profitieren, sollen zahlen, um gute Ausbildung zu finanzieren.

Rösler bezeichnet seine Initiative als Akt der europäischen Solidarität. Dass dies keinen öffentlichen Aufschrei auslöst, zeigt, wie die neoliberale Epoche bereits Denken und Sprache korrumpiert hat: Wenn die FDP von Solidarität spricht, meint sie Steuergelder für Banken, nicht einen guten Lohn für die griechische Krankenschwester. Wenn sie von Freiheit spricht, meint sie nicht das Recht der jungen Generation auf eine sichere Lebensplanung, sondern, dass Beschäftigte und Erwerbslose europaweit um die billigsten Löhne konkurrieren. Ein Journalist ging kürzlich so weit, die Schließung des Nokia-Werkes in Bochum mit Solidarität gegenüber rumänischen Arbeitern zu begründen – die nun zu Hungerlöhnen für den finnischen Konzern schuften.

Statt Lohndumping brauchen wir ein EU-weites Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit. Dies ließe sich über eine Vermögensabgabe für Millionäre oder niedrig verzinste Direktkredite der Europäischen Zentralbank (EZB) finanzieren. Allein das Vermögen der europäischen Millionäre und Multimillionäre ist mit 14 Billionen Euro deutlich höher als die gesamte Staatsverschuldung in der EU, die bei etwa elf Billionen Euro liegt.

Meine Hoffnung für Europa: Die betrogene Generation von Madrid, über Berlin bis nach Athen wird sich wehren.

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