Griechenland: Bodo Ramelow rät zu Geduld und Selbstbesinnung

Bodo_Ramelow_(DIE_LINKE)Fast genau ein halbes Jahr ist die griechische Regierung unter Premierminister Alexis Tsipras heute im Amt. Nicht nur ich hatte nach der Wahl im Januar große Hoffnungen. Wir hofften, dass die neue griechische Regierung einen Kurswechsel im eigenen Land einleiten kann, der die Lasten der wirtschaftlichen und sozialen Krise gerechter verteilt und den Raum für eine wirtschaftliche Erholung schafft. Kein Land hat bis zu Tsipras Wahl so schnell und so rabiat die Rezepte der Troika umgesetzt. Runter mit den Staatsausgaben, runter mit den Löhnen, runter mit den Renten, weg mit erkämpften Arbeiterrechten, raus mit tausenden Beamten. Kein Land hat so unter dem gelitten, was wir abstrakt als Austerität bezeichnen. Armut, Hunger und Hoffnungslosigkeit hielten in ein Land der Euro-Zone wieder Einzug. Wer einmal gesehen hat, wie Athener Rentner um Geld für ein wenig Essen betteln, wie Eltern vor Krankenhäusern um die Behandlung ihrer kranken Kinder betteln, oder wie entlassene Putzfrauen um ihre Wiedereinstellung (zu einem reduzierten Lohn) betteln, kann nicht ignorieren, dass es in Griechenland den großen Wunsch nach fundamentaler Änderung einer Politik gibt, die gemessen an ihren Zielen gescheitert ist. Die Arbeitslosigkeit ist in ungekannte Dimensionen gestiegen, die Armut ist explodiert, die Wirtschaft ist in der Dauerdepression, der Schuldenstand sinkt nicht sondern steigt. All diese Befunde stehen für ein eklatantes Scheitern des von Brüssel verordneten Politikmixes aus Austerität, Privatisierungen und Liberalisierungen.

Syriza trat an, all das schrittweise zu ändern. Und einiges passierte auch im Land. Der Mindestlohn wurde angehoben, ein Programm gegen die krassesten Auswirkungen der Armut wurde gestartet, verschwenderische Rüstungsprojekte wurden eingefroren, Versuche zur Eintreibung der Steuerrückstände wurden gemacht. Keine Regierung macht keine Fehler, und man kann zu dem, was die neue Regierung tat und unterließ, auch kritische Anmerkungen haben. Aber all das geschah von Anfang unter den Augen einer bestenfalls misstrauischen europäischen Öffentlichkeit. Und es geschah von Anfang an unter hohem Druck von außen. Die fragile Situation der griechischen Staatsfinanzen (die zweifellos durch einen völlig unrealistischen Schuldendienst hervorgerufen wurde) und der griechischen Banken war der Hebel für eine permante Einflussnahme nicht gewählter Technokraten aus Brüssel und Frankfurt auf die griechische Innenpolitik. Den Gipfel erreichte diese Einflussnahme zunächst mit der faktischen Suspendierung des Zahlungsverkehrs in Griechenland durch die Europäische Zentralbank im Juni. Der Schaden, den die griechische Wirtschaft allein dadurch nahm, lässt sich auf kurze und mittlere Sicht kaum ermessen. Der Handlungsdruck, dem die Tsipras-Regierung dadurch ausgesetzt wurde, war enorm. Die immer offeneren Drohungen mit einem faktischen Ausschluss Griechenlands aus der Währungsunion (der rechtlich gar nicht möglich ist, aber faktisch durch die EZB erzwungen werden kann), haben die Verhandlungsposition der griechischen Regierung weiter geschwächt. Die Haltung der griechischen Bevölkerung hat sich im Referendum vom 5. Juli deutlich ausgedrückt: Ja zum Euro, Nein zur Austerität. Die Antwort der europäischen Institutionen darauf lautete: Wenn ihr den Euro wollt, dann müsst ihr auch Ja zur Austerität sagen.

Unter diesen Bedingungen haben der griechische Finanzminister Tsakalotos und Ministerpräsident Tsipras verhandelt. Herausgekommen ist heute Morgen eine Einigung, deren wichtigster Pluspunkt ist, dass sie überhaupt zustande kam, weil nur so ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone verhindert werden konnte. Das ist auch einer Kompromissbereitschaft der griechischen Seite zu verdanken, die weit über die Grenzen der Selbstverleugnung hinausging. Denn ansonsten enthält die Einigung im Wesentlichen den altbekannten Troika-Politikmix aus Austerität, Privatisierungen und Liberalisierungen. Vor dem Hintergrund der vergangenen fünf Jahre erlaube ich mir deutliche Zweifel daran, dass dieses Rezept nun mit einer erhöhten Dosis zur Genesung der griechischen Wirtschaft führt. Ich prognostiziere: der beschlossene Deal wird die griechische Wirtschaft auf kurze Sicht in eine schwere Rezession schicken und die politische Krise verschärfen. Entscheidend wird sein, ob Griechenland in den kommenden Jahren den Freiraum für eine aktive Wachstumspolitik erhält. Dazu gehört auch, dass darüber geredet werden muss, wie Griechenland unter diesen Bedingungen eigentlich den Schuldenberg jemals abtragen soll. Es kann doch nicht sein, dass die Hedgefonds, die vor einigen Jahren die griechischen Schuldtitel für einen Bruchteil des Nennwerts aufgekauft haben, jetzt mit europäischem Steuergeld 100 Prozent eines gigantischen Extraprofits garantiert bekommen. Warum zeigen die Institutionen nicht dieselbe Entschlossenheit und Härte, wenn es darum geht, der griechischen Regierung bei der Auffindung von Schwarzgeldkonten reicher Griechen in Europa zu helfen. Hier sollte jetzt umgehend eine einheitliche Vorgehensweise Europas auf den Weg gebracht werden. Warum soll es nicht möglich sein, durch eine internationale Vereinbarung über die Arbeitsbedingungen auf Schiffen, den griechischen Reedern einen Teil ihrer unberechtigten Wettbewerbsvorteile wegzunehmen? Und völlig unverständlich ist für mich, dass das griechische Angebot, die Rüstungsausgaben um einen zweistelligen Millionenbetrag zu kürzen, in der Vereinbarung gar nicht mehr auftaucht.

Allen, die jetzt vorschnell ihre Enttäuschung über das (nicht) Erreichte in einen Entzug der Solidarität für Syriza und ihr Reformprojekt umsetzen wollen, rate ich zu Geduld und Selbstbesinnung. Ein besserer Deal hätte sicher auch mehr und deutlichere Signale der Solidarität aus dem Norden Europas gebraucht. Wir wissen jetzt klarer als zuvor: eine europäische soziale, wirtschaftliche und finanzielle Erneuerung wird keine Zuschauerveranstaltung. Und allen, die jetzt darüber ärgerlich sind, dass erneut Steuergeld für ein drittes „Hilfspaket“ fließt, rufe ich zu: auch diesmal fließt der größte Teil der avisierten 82 bis 86 Milliarden Euro in die Bedienung von Altschulden und die Rekapitalisierung von Banken, aber mit Sicherheit nicht an „die Griechen“. Man kann darüber reden, ob es richtig oder falsch ist, für die Schürung deutsch-griechischer Vorurteile darf die Debatte nicht missbraucht werden! Sorgen macht nicht nur mir der Ton, in dem zeitweise auf europäischer Ebene miteinander geredet wurde. Europa darf nicht zu einer marktkonformen Demokratie werden, die Einführung der Wirtschafts- und Finanzunion ist hingegen notwendig für eine gemeinsame Zukunft im Euroraum. Es reicht nicht, wenn die Finanzmärkte dem Euro vertrauen. Es geht auch darum, dass die Bürger wieder Vertrauen in demokratische Entscheidungsabläufe fassen. Richtig wäre jetzt eine europaweite Debatte darüber, ob wir uns den Austeritätskurs unter sozialen und demokratischen Gesichtspunkten weiter leisten können. Es muss wieder frei über Alternativen geredet werden. Damit sollten wir jetzt schnell anfangen.

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