Griechenland – Syriza koaliert mit Rechtspopulisten

Unserer Freude über den Wahlsieg folgte Verwunderung. Dieser Beitrag eines Blockupy-Aktivisten vor Ort in Athen beleuchtet die Hintergründe der Entscheidung:

Die Wahl ist vorbei: Nun beginnt für die griechische und europäische Linke ein neues Kapitel. Die Rollen werden neu verteilt. Gestern hat die Linke gewonnen. Syriza, aber auch die Bewegungen arbeiten unter neuen Bedingungen. Die außerparlamentarische Linke und die sozialen Bewegungen müssen sich nun neu sortieren, auch wenn sie darauf nicht unvorbereitet sind. Die Wahl beendet eine mehrjährige, in vielfacher Hinsicht statische Konstellation und öffnet den Raum für neue politische Dynamiken. Syriza hingegen steht schon heute vor der ersten Bewährungsprobe. Sie muss mit der Koalitionsentscheidung für ANEL die erste machtpolitische Entscheidung vor der gesellschaftlichen Linken rechtfertigen.
Alexis Tsipras, der heute um 16h vereidigt werden soll, sprach gestern gegen 23.00 Uhr auf dem Propyläa-Platz. Damit verstieß er gegen die Codes des Athener Politikbetriebs, nach denen der Wahlsieger sich zuerst den Journalist_innen präsentiert. Tsipras in seiner Rede: „Es wird keinen katastrophalen Bruch geben, aber die Kontinuität der Unterwerfung wird nicht akzeptiert werden. Wir haben vor uns die Chance eines neuen Anfangs in Griechenland und Europa.“ Zum Wahlerfolg der Goldenen Morgenröte schwieg er.

Die Wahl von Syriza ist für viele Anfang einer nächsten Runde sozialer und politischer Auseinandersetzung – nun aber, so ist die Hoffnung, unter verbesserten Ausgangsbedingungen. Die Leute warten ab, was nun von Syriza kommt und es ist klar, dass die eigentliche Auseinandersetzung jetzt erst beginnt. Das ist hier auf den Straßen vielen klar: Statt Tsipras-Rufen und Personenkult lag gestern Abend eine eher abwartende Stimmung in der Luft. Viel Vertrauen in die Möglichkeiten von Regierungspolitik gibt es nicht. Das macht nicht zuletzt die geringe Wahlbeteiligung deutlich.
Heute wurde nun offiziell bestätigt, dass Syriza eine Koalition mit der rechtspopulistischen ANEL eingeht. Hier in Griechenland ist man darüber weit weniger überrascht als in den internationalen Medien. Im Wissen um diese Möglichkeit sind auch die Diskussionen vor der Wahl zu sehen. Die Koalitionsoption mit ANEL wird hier spätestens seit letztem Sommer als wahrscheinlichste jenseits der absoluten Mehrheit diskutiert, weil das entscheidende Kriterium für Syriza die Ablehnung der Troika-Politik ist. Deswegen zieht Syriza für die Regierungsbildung nun ANEL auch Potami vor, obwohl Potami politisch deutlich liberaler ist. In diesem Sinne kann die Entscheidung für ANEL natürlich für falsch gehalten werden; ein Beweis dafür, dass Syriza nun schon an Tag Eins nach der Wahl ihr „wahres Gesicht“ zeigt, ist sie (noch) nicht.
Die „Unabhängigen Griechen“ (ANEL) sind im Zuge der Krisenproteste entstanden. Sie sind tendenziell im rechtspopulistisch-nationalistischen, aber auch postpolitischen Milieu anzusiedeln und ideologisch/programmatisch ausgesprochen ungefestigt. Einige ihrer Wahlstimmen stammen von dem Erfolg der Bewegung der Empörten auf dem Syntagma Platz im Frühsommer 2011. Zur Erinnerung: damals gab es auf dem Platz zwei Versammlungen. Im unteren Teil des Platzes versammelten sich linksorientierte Menschen und soziale Bewegungen, im oberen Teil des Platzes Patriot_innen, unter ihnen Teile der Mittelschicht. ANEL wurde im Februar 2012 von Panos Kammenos, einem ehemaligen Mitglied der Konservativen, als ND-Abspaltung gegründet. Im Stile einer nationalen Protestpartei versucht sie, sich mit rechtspopulistischen Tönen als die wahre Alternative zu den korrupten Eliten und gegen die ausländischen Mächte, die „unser“ Land bedrohen, zu inszenieren. Sie pflegt besonders antideutsche Töne und fordert eine Begleichung der Reparationszahlungen aus dem 2. Weltkrieg. Darum fand auch die Gründungserklärung der Partei in Distomo statt, dem Ort an dem 1944 von der deutschen Waffen-SS ein Massaker verübt worden war. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2012 erreichten sie 7,51%. In letzter Zeit erschien die ANEL als ein unorganisierter Haufen: Parlamentarier_innen machten sich unabhängig oder wechselten zu Syriza, z.B. Rachil Makri. Dabei wurde parteiintern die Führung von Panos Kammenos stark angezweifelt. ANELs Position beinhaltete bisher vor allem die Forderung zur Aufhebung der Immunität von Ministern, Parlamentariern und Beamten vor Strafverfolgung, den Schutz der nationalen Souveränität und die Aufkündigung des Memorandums, also den Vereinbarungen mit der Troika. In Interviews im Vorfeld der Wahl zur potentiellen Koalition mit Syriza setzten sie als Bedingung vor allem eine Einigung in den nationalen Fragen Griechenlands, wie etwa im Namensgebungskonflikt mit Mazedonien, im Zypernkonflikt und in der politischen Auseinandersetzungen mit der Türkei.
Viele werden sich nun fragen: Warum kommt so eine Partei als Koalitionspartner für Syriza in Frage? Zum Verständnis, nicht zur Rechtfertigung, ein paar mögliche Erklärungen:

Erstens wird die Partei aufgrund ihres Wahlergebnisses, aber auch aufgrund ihrer aktuellen Unorganisiertheit, keinen starken Juniorpartner ausmachen können. Es ist nicht gesagt, dass ANEL tatsächlich eine maßgebliche eigene Rolle in der Regierungskoalition einnehmen kann. Das Programm von ANEL ist in zentralen Bereichen unkonkret und populistisch; es mangelt vor allem an einem seriösen Expert_innenstamm von Wissenschaftler_innen, den z.B. Syriza schon lange aufgebaut hat. Syriza wird sicherlich die Oberhand in der Regierung behalten und vielleicht auf Dauer die Fraktion spalten und Abgeordnete zu sich „rüberholen“ können. Es wäre nicht das erste Mal, dass im griechischen Parlament der Juniorpartner von der großen Regierungspartei geschluckt wird. Ob das ein taktisches Kalkül von Syriza ist, bleibt Spekulation.

Zweitens ist ANEL eine Partei, die aus der Protestbewegungen gegen das Krisenregime entstanden und in Fragen der Troika auf einem konfrontativen Kurs ist. Auf alle Fälle ist im Moment aber noch das zentral einende Moment der beiden die Opposition zur herrschenden EU-Politik, die von Angela Merkel und ihren Partnerinnen diktiert wird.

Drittens hat ANEL eine gewisse Glaubwürdigkeit, weil sie in den Augen vieler nicht aus dem klassischen politischen Establishment stammen und konsequent als Anti-Troika-Partei agiert haben – wenn auch nur populistisch. Als Land mit einer langen Kolonial- und Besatzungsgeschichte ist in Griechenland die Nähe von nationalistischen und linken Positionen natürlich auch eine andere als in der BRD.

Während der Einfluss von ANEL auf die Regierungsgeschäfte wohl eher überschaubar sein wird, stellt sich nun die Frage nach den Zugeständnissen an das rechtspopulistische Milieu von ANEL. Wie vertretbar die Syriza-Entscheidung für ANEL ist, dürfte sich dabei vor allem an der Flüchtlingspolitik und dem Umgang mit den Detention-Camps entscheiden. Sollte Syriza die humanitäre Krise nunmehr ausschließlich als eine der griechischen Staatsbürger_innen bearbeiten, weil mit ANEL keine Solidarität mit Migrant_innen machbar ist, wäre dies ein Schlag ins Gesicht für viele griechische Linke und natürlich die Betroffenen selbst. Die humanistische und universalistische Rhetorik der Partei würde massiv an Glaubwürdigkeit verlieren. Ein NoGo und ein „Kompromiss“, der wohl vielen zu weit gehen würde. Dies würde wohl auch Syriza-intern zu großen Verwerfungen führen.
Mit den Worten „Freundinnen und Freunde, ich möchte mich herzlichst bei euch allen bedanken. Aber vor allem möchte ich allen danken, und es sind tausende, in jeder Ecke Europas, die die hierher gekommen sind, die ausländischen Delegationen, für diese einzigartige Welle der Unterstützung und der Solidarität zu griechischen Volk die aus jeder Ecke Europas kommt. Der Sieg von uns ist gleichzeitig auch der Sieg der anderen Völker von Europa die gegen die Austerität kämpfen, die die gemeinsame europäische Zukunft zerstört“ grüßte Tsipras übrigens gestern Abend an prominenter Stelle die vielen Linken aus ganz Europa, die hier nach Athen gekommen sind und andernorts gegen die Austeritätspolitik kämpfen. Mehr als eine Floskel, weil sich dieser Tage tatsächlich viele bekannte Gesichter aus ganz Europa in Athen unterwegs sind. Tatsächlich haben auch wir hier in den letzten Tagen viele Mitstreiter*innen getroffen (aus Italien, Portugal, Dänemark…), die wir zuletzt im Herbst beim Blockupy-Festival oder bei den letzten Aktiventreffen gesehen haben.

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