Günter Busch zur Tarifrunde öffentlicher Dienst 2018

Nur weiter so?

Am 11. April bei der Streikkundgebung Marktplatz Reutlingen (Mitglied im Kreisvorstand DIE LINKE Reutlingen)

Die diesjährige Tarifrunde im Öffentlichen Dienst der Kommunen und des Bundes zeigt keine Überraschungen. Starke lineare Erhöhungen um 6% mit einer sozialen Komponente, dieses mal 200.-€ Mindestbetrag, bei 12monatiger Laufzeit werden gefordert.
Dazu wie immer weitere Blumenstraußforderungen, die bis auf die Anhebung des Nachtzuschlags in den kommunalen Kliniken zwar nicht streikfähig sind, die aber, da in den Diskussionen von vielen gefordert, en passant mit eingebracht werden. Zum Blumenstrauß gehören Manteltariffragen wie Erhöhung des Zusatzurlaubs für Schichtarbeit, Angleichung Ost beim 13. Gehalt, Erhöhung des Samstagszuschlags in Krankenhäusern, Einrechnung der Pausen in die Arbeitszeit bei Wechselschicht in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sowie diverse Mantelregelungen für Auszubildende.
Also neben dem Entgelt in der Entgeltrunde noch über ein Dutzend Zusatzpunkte. Wenn man das alles ernsthaft angehen will, muss man den Manteltarifvertrag kündigen. So etwas wäre aber heikel, da dann verschlechternde Gegenforderungen der Arbeitgeber drohen. Dann käme man vielleicht mit einem schlechteren Mantel raus als man hineingegangen ist.
Ohne Kündigung ist man aber, da nicht dursetzungsfähig, auf ein goodwill der Arbeitgeberseite angewiesen. Oder diese will an anderer Stelle eine Kompensation, wie das in der 2. Verhandlungsrunde am 12./13. März bei der Frage der Angleichung Ost der Jahressonderzahlung eingefordert wurde.
Hinzu kommt eine Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beim Streikrecht, die die Zusatzforderungen weniger mobilisierungsfähig macht. Bisher reichte die Streikfähigkeit der Hauptforderungen, damit ein Streikaufruf trotz weiterer, nicht streikfähiger Nebenforderungen rechtmäßig war. Jetzt gilt die ‚Rühreitheorie‘ : Ist ein Ei faul, ist das gesamt Rührei verdorben. Ist ein Streikziel illegal, weil z.B. in dem Forderungsbereich Friedensplicht herrscht, ist der ganze Streik rechtswidrig. Ver.di unterscheidet daher in den Streikaufrufen zwischen den streikfähigen Forderungen und sog. „Weiteren Erwartungen an die Arbeitgeber“, was die Skepsis bei der Durchsetzung schon im Begriff anzeigt.
Skepsis ist auch angebracht bei der gewerkschaftlichen Reaktion auf die unterschiedliche Entwicklung der Lebenshaltungs- und Mietkosten zwischen Stadt und Land. Als Forderung nach einer Ballungsraumzulage in der Mitgliedschaft gestartet, hat sie als kostenloses Nahverkehrsticket Eingang gefunden in die Diskussionsempfehlung der Bundestarifkommission vom Oktober 2017 und ist jetzt als letzter Punkt des Wunschkatalogs unter dem Stichwort „Verhandlungen über ein kostenloses Nahverkehrsticket“ gelandet. Es gibt dazu schon so viele lokales Regelungen, dass viele die Dringlichkeit nicht sehen.

Forderungsbegründung
Die relativ hohe materielle Forderung von 6% wird dreifach begründet:
1. Anschluss halten gegenüber der allgemeinen Lohnentwicklung. Hier hat die IG Metall vorgelegt: Nach Berechnungen der IGM und des Tarifexperten Thorsten Schulten liegt das komplexe materielle Abschlussvolumen in den Jahren 2018 und 2019 bei jeweils etwa 4%. Das muss erst einmal erreicht werden! Bei 1,5% prognostizierter Preissteigerung 2018 und einer Produktivitätssteigerung von max. 1,0% gibt es einen verteilungsneutralen Spielraum von 2,5%, den der IGM-Abschluss locker übersteigt. Zumindest auf der Tarifebene findet hier eine Umverteilung bei den Primäreinkommen von oben nach unten statt.
Die Abschlusserwartung der ver.di Mitgliedschaft (die zugegeben schwer einschätzbar ist und dynamisch abhängt vom weiteren Verlauf der Tarifrunde) liegt ehr nahe am Abschluss der IG Metall.
2. Nachholbedarf der Löhne und Gehälter des öffentlichen Dienstes gegenüber der Tarifentwicklung der Gesamtwirtschaft.
Ver.di beziffert diese Differenz mit 4%. Zur Begründung wird die Tarifindexentwicklung seit dem Jahr 2000 angegeben. Setzt man den Index für alle Branchen im Jahr 2000 auf 100, sind es heute für den ÖD 140,6, in der Gesamtwirtschaft 144,8 und bei Metall 151 im Jahr 2016. Den jüngsten Metall-Abschluss hinzugerechnet gibt es zum Tarifniveau Metall heute eine Differenz von über 15%.
Die ver.di Rechnung unterstellt, dass im Jahr 2000 ein in etwa ausgeglichenes Tarifniveau bestand, von dem aus sich dann die Unterschiede entwickelten. Erhebliche Branchenunterschiede zwischen Industrie und Dienstleistungen gab es aber schon vor dem Jahr 2000, der Nachholbedarf ist also erheblich höher und beträgt z.B. in der Pflege über 20%.
3. Mit der Tarifdifferenz zusammen hängt auch die nicht vorhandene Konkurrenzfähigkeit des öffentlichen Dienstes bei der Suche nach qualifizierten Arbeitskräften. Gerade für einen funktionierenden ÖD bei Investitionen, sozialem Wohnungsbau, mehr Kitas und besserer Bildung ist der auch personelle Ausbau öffentlicher Dienstleistung zwingende Voraussetzung.
Eine soziale Komponente im Forderungspaket ist bei ver.di immer hoch besetzt gewesen und wurde auch dieses Mal als Festbetrag, als Sockel oder als Mindestbetrag diskutiert. 200.-€Mindestbetrag bedeutet in der untersten Entgeltgruppe in der Eingangsstufe eine Erhöhung von 12,5%. Der Umkehrpunkt, bis zu dem der Mindestbetrag höher ausfällt als eine lineare 6% Erhöhung liegt bei 3350.-€. Das ist etwa der Durchschnittsverdienst der Gewerkschaftsmitglieder im Öffentlichen Dienst.
Die hohe Bedeutung einer sozialen Komponente bedarf der Erläuterung. Schließlich sind viele niedrig dotierte Tätigkeiten längst ausgegliedert oder werden fremd vergeben – bei deutlich niedrigeren Löhnen als im ÖD. Deshalb argumentieren die Arbeitgeber auch, dass im unteren Bereich der ÖD überbezahlt sei und bei den oberen Einkommen unterbezahlt werde.
Bei ver.di hat das engere Zusammenrücken der Entgeltgruppen hohen Symbolwert für mehr Solidarität auch in den eigene Reihen. Der Staat soll hier beispielgebend vorangehen. Obwohl selber nicht betroffen, fordern viele Funktionär*innen deshalb einen sozialen Ausgleich. Ob das dann streikfähig wäre, wenn die Prozentzahl stimmt, steht auf einem anderen Blatt.

Wer verhandelt für wen?
Verhandelt wird unmittelbar für die 2,3 Millionen Arbeitnehmer*innen der Gemeinden, der Städte und des Bundes, wobei 2,15 Mio. auf den Kommunalbereich entfallen, der Rest auf den Bund. Die Länder verhandeln separat und sind beim Lohn erst wieder im nächsten Jahr dran.
Indirekt mitverhandelt wird aber außerdem für 350 000 Beamt*innen bei Kommunen und vor allem beim Bund, für die die Übernahme des Tarifergebnisses regelmäßig mitgefordert und dann auch meistens gesetzlich nachvollzogen wird. Weiter gilt dies für die 400 000 Beschäftigten bei den Sozialversicherungen (Rente, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosenversicherung), die durch Anwendungsklauseln in jeweils eigenen Tarifverträgen die Tariferhöhungen übernehmen.
Indirekt angekoppelt sind aber auch ca. 2,4 Mio. Beschäftigte der Kirchen, der kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie, der AWO, des DRK und des DpWV sowie weitere Körperschaften des Öffentlichen Rechts. Diese Bereiche sind zu einem geringen Teil durch Anwendungstarifverträge und Anwendungsklauseln einbezogen, zum weit überwiegenden Teil über den kircheneigenen 3. Weg und/oder durch einzelvertragliche Bezugnahmen. In finanziell schwierigen Zeiten ist wegen fehlender tarifvertraglicher Absicherung auch die Ankopplung an den ÖD gefährdet. Die Leistungen hier werden fast ausschließlich aus Steuergeldern und Sozialversicherungsmitteln finanziert und sind daher dem staatlichen Bereich strukturell zuzuordnen.
2,3 Mio. unmittelbar einbezogene und zusätzlich 3,15 Mio. Beschäftigte mittelbar – das ist auf Dauer ein gefährliches Ungleichgewicht. Bei den Arbeitgebern sitzen diese Bereiche quasi mit am Verhandlungstisch, bei ver.di nicht. Die Mitglieder in diesen Bereichen sind auch nicht an der Willensbildung und an der Tarifdurchsetzung beteiligt. Eine Strategie, dies zu verändern, ist nicht ersichtlich.

Die Durchsetzung
Die Durchsetzungsmacht von ver.di in den Tarifrunden ÖD ergibt sich aus Organisationsgrad, Aktivitätsniveau und der Fähigkeit, Reproduktionskreisläufe zu unterbrechen. Bei einem durchschnittlichen Organisationsgrad von 20% sind die Mitglieder organisationsintern bei der Betreuung verschiedenen Fachbereichen zugeordnet. Der Organisationsgrad in den Einrichtungen schwankt extrem zwischen wenigen Prozent vor allem in den Verwaltungen bis zu sehr hoher Organisierung in Eigenbetrieben, beim Nahverkehr und bei der Müllabfuhr, soweit dies alles noch öffentlich betrieben wird. Streikbereiche sind aber auch zunehmend Humandienstleistungen wie Krankenhäuser, Kitas und Pflege. Die Mitgliederentwicklung im kommunalen Bereich ist in den Tarifrunden stark zyklisch. Bei Warnstreiks von mehr als 4 Stunden zahlt ver.di Streikgeld. Das führt zu sprunghaften Mitgliederzuwächsen. Nach dem Tarifabschluss sinken die Mitgliederzahlen dann langsam wieder.
Auch bei der Anlage der Abfolge von Verhandlungen und Aufbau von Verhandlungsdruck gibt es nichts Neues: Ver.di versucht, durch hohe Streikzahlen bei Warnstreiks vor allem öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dabei können bei übergreifenden Streikkundgebungen auch Einrichtungen mit niedrigem Organisationsgrad einbezogen werden. Ökonomischer Druck auf die Arbeitgeber ist damit nicht verbunden, Unterbrechungen von Reproduktionskreisläufen sind höchstens im Nahverkehr und bei den Flughäfen gegeben. Fernsehen und Medien zeigen dann regemässig eine hohe Streikbeteiligung.
Die Arbeitgeberseite ist dieses Mal besonders schwer einzuschätzen. Ein Angebot liegt noch nicht vor und der Wechsel in der Leitung des Innenministeriums erzeugt zusätzlich Unsicherheit. Horst Seehofer als einer der beiden Verhandlungsführer der Arbeitgeber wird erstmals bei der entscheidenden Verhandlungsrunde am 15./16. April seinen Kurs zeigen müssen.
Ein wesentlicher Begründungszusammenhang von ver.di ist die gute finanzielle Lage der Öffentlichen Hand. 2017 ein Haushaltsüberschuss von 38,4 Mrd.€, prognostizierte 45 Mrd.€ 2018 und 50.-Mrd.€ 2019 zeigen in der Tat ein hohes potentielles Verteilungsvolumen. Doch sind die Überschüsse schnell weg, wenn der Koalitionsvertrag umgesetzt wird. Höhere Militärausgaben und weitere Steuersenkungen noch nicht eingerechnet. Wächst die Wirtschaft nur ein wenig schwächer, wird aus dem Überschuss schnell ein Defizit. Das müsste man dann konsequenterweise auch gegen sich gelten lassen. Finanzierungssalden des Staates sind politisch determiniert und nicht das Gleiche wie Gewinnmargen der Privatwirtschaft.

Was fehlt
Spannender als das Weiter-so der Tarifrunde 2018 sind die Dinge, die nicht angegangen und nicht gefordert werden:
• Die Erosion der Flächentarifverträge ÖD. Um mehr als 2,2 Mio. ist die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst seit 1991 zurückgegangen, von 6,7 auf unter 4,5 Mio. Gründe dafür liegen nicht nur bei Leistungseinschränkungen und Rationalisierungen, sondern auch bei der Ausgliederung ganzer Bereiche aus dem Öffentlichen Dienst und deren Zuführung zur privaten Kapitalverwertung. Die Reichweite der Tarifverträge sinkt auch durch Austritte aus den Arbeitgeberverbänden, die in einzelnen Fällen durch Häuserkampf wieder rückgängig gemacht werden konnten. Aber eine systematische Vorgehensweise fehlt. In Tarifrunden gelingt eine Mitgliedermobilisierung besser. Dies muss zielgerichtet zur Rückholung von Eirichtungen in die Arbeitgeberverbände genutzt werden.
Abnehmende Tarifbindung ist nicht nur eine Frage an den Gesetzgeber, z.B. die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu erleichtern, sondern auch eine strategisch entscheidende Frage an die Gewerkschaften selbst. Dafür Gelder bereitzustellen ist vielleicht sinnvoller als eine allgemeine Imagewerbung für den ÖD, die ver.di parallel zur Tarifrunde dieses Jahr fährt.
• Wichtiger noch ist eine fehlende Arbeitszeitkomponente bei den Forderungen. Warum nicht wie bei der IG Metall oder besser noch mit ihr zusammen eine Forderung nach kurzer Vollzeit, nach zeitweiliger Arbeitszeitverkürzung mit Rückkehrrecht und Teillohnausgleich in besonderen Fällen? Wenn jede Gewerkschaft für sich das Thema Arbeitszeit bearbeitet wird von den Gewerkschaften aus keine gesellschaftliche Bewegung dazu angestoßen werden können. Eine DGB-Absprache oder wenigstens zwischen ver.di und IGM hat es bisher nicht gegeben.
Dabei ist das Thema Arbeitszeit auch bei den Mitgliedern hoch besetzt. Anders als beim Lohn kann aber nicht einfach abgefragt werden, wieviel Verkürzung denn gewollt sei. Es bedarf rechtzeitiger und gründlicher Diskussion insbesondere über die Form einer Arbeitszeitverkürzung und die Möglichkeiten seiner Durchsetzung. Das ist bei ver.di nicht gemacht worden, In dieser Tarifrund hätte die Möglichkeit bestanden, Arbeitszeit in dieser Gesellschaft wieder auf die politische Agende zu setzen. Die Chance ist vertan.

Und so steht das Geld ganz im Vordergrund. Gerade die Angst der Menschen vor steigenden Mieten, vor fehlenden Zinserträgen, aus denen früher Teile des Urlaubs finanziert werden konnten, die Angst vor wegbrechenden sozialen Sicherungssystemen wähnt die Beschäftigten auf der sicheren Seite, wenn sie mit mehr Geld für sich einen Ausgleich suchen. Die Flucht ins Geld ganz persönlich für sich löst nicht das Problem der sozialen Sicherheit und des Stresses am Arbeitsplatz. Hier bedarf es tariflicher und politischer Lösungen, gerade auch um den Rechtspopulisten nicht noch größeren Zulauf zu verschaffen. Und solche Lösungen müssen weit über das hinausgehen, was die Großen Koalition in den nächsten dreieinhalb Jahren umsetzen will.
Ein Weiter-so darf es deshalb auch bei ver.di nicht geben. Mehr Risikobereitschaft und mehr Vertrauen in die eigene Mitgliedschaft – auch das ist Teil der Verantwortung der Gewerkschaftsführung.

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