Klima retten durch Verzicht?

Der Reutlinger GEA zur Fridays for Future-Demo: „Die Verzichtsdebatte ist in Reutlingen angekommen.“
Eine Rednerin forderte: Wir müssen uns mit dem Thema Verzicht anfreunden. Unser Lebenswandel muss sich ändern. Weniger Fleisch essen, auf das Fliegen verzichten, statt auf die Politik zu vertrauen.
Auch in den GEA-Ankündigungen des Neigschmeckt-Marktes und einer Filmvorührung im KAMINO zur Welternährungslage, wird die individuelle Verhaltensänderung als Lösung des Klimaproblems angeboten.

Ein Text von Fabian Lehr setzt sich mit diesem Ansatz auseinander:

Man betone hier „Ein Individuum“. Stimmt schon: Mehr Co2-Ausstoß als durch regelmäßige Flugreisen kann man durch individuelle Konsumentscheidungen kaum schaffen (Wobei mir fraglich scheint, ob die Co2-Bilanz von häufigem Fleischkonsum nicht schlimmer ist als die eines Langstreckenflugs alle paar Jahre). Der Punkt ist aber: Die individuellen Konsumentscheidungen sind gar nicht ausschlaggebend dafür, ob die Klimakrise in einem zu bewältigenden Rahmen bleibt oder nicht. Alle individuellen Bemühungen um geringeren Co2-Fußabdruck sind mehr oder weniger für den Arsch, wenn die Energie, die ich durch Strom und Heizen verbrauche und unweigerlich verbrauchen muss, aus Kohlekraftwerken stammt, was Resultat politischer Entscheidungen ist.

Ein durchschnittlicher Franzose hat einen halb so großen Co2-Fußabdruck wie ein durchschnittlicher Deutscher – nicht, weil Franzosen im Schnitt asketischer und tugendhafter leben würden als Deutsche, sondern in beträchtlichem Maße aufgrund der politischen Entscheidung, den allergrößten Teil der Energie aus Atomkraft zu gewinnen. —more— Ein durchschnittlicher Deutscher wiederum hat einen halb so großen Co2-Fußabdruck wie ein durchschnittlicher Amerikaner – auch hier nicht, weil Deutsche im Schnitt nach asketischen Idealen leben, sondern aufgrund diverser politischer Entscheidungen: Weil in den USA die öffentlichen Verkehrssysteme bewusst zugrundegerichtet wurden, sodass die allermeisten Menschen mangels brauchbaren ÖPNVs wohl oder übel ständig das Auto benutzen müssen. Weil die in den USA geltenden Baugesetze, Raumplanungsverfahren und eben der Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln Bau oder Kauf eines freistehenden, enorm ressourcenfressenden Einfamilienhauses in Suburbia viel attraktiver machen als in einer ressourcenschonenden städtischen Mietwohnung zu leben.
Dass Industriebetriebe technisch leicht implementierbare, weitaus weniger Co2-intensive, aber teurere und damit weniger rentable Produktionsmethoden nicht anwenden müssen, ist Resultat politischer Entscheidungen. Dass die klimatisch katastrophale fossile Energiegewinnung nicht nur nicht verboten, sondern mit Milliardenbeträgen subventioniert wird, ist eine politische Entscheidung. Dass nicht massenhaft neue Wälder gepflanzt werden, sondern die Waldfläche ständig schrumpft, weil Abholzung zur Profitgewinnung erlaubt und oft geradezu gewünscht ist, ist Resultat politischer Entscheidungen. Dass hunderte Millionen Menschen täglich mit einem Auto, in dem 1 oder 2 Personen sitzen, durch die Landschaft fahren (Ein viel, viel schwerwiegenderer Faktor als der Flugverkehr), ist Resultat der politischen Entscheidung, keine ausreichenden öffentlichen Verkehrsmittel zu bauen oder sie, wenn sie vorhanden sind, nicht als kostenlose öffentliche Infrastruktur anzubieten, sondern als kapitalistische Unternehmen betreiben zu lassen, wodurch ihre Nutzung finanziell abschreckend wird.
Das RWE-Kohlekraftwerk Neurath verursacht höhere Co2-Emissionen als der gesamte innerdeutsche Flugverkehr zusammengenommen. Man lasse sich das auf der Zunge zergehen: Die politische Entscheidung, auch nur dieses eine Kraftwerk zu schließen, hätte einen größeren Klimaschutzeffekt, als wenn dutzende Millionen deutsche Normalverbraucher alle die individuelle Konsumentscheidung treffen, keine Inlandsflüge mehr zu buchen. Würde man alle RWE-Kraftwerke in Deutschland schließen, wäre der Klimaschutzeffekt so groß, als wenn alle 20 Millionen Einwohner Rumäniens beschließen würden, als mittelalterliche Subsistenzbauern zu leben und gar keine Energie mehr zu verbrauchen.
Der gesamte Flugverkehr der Welt ist für 3-5% der Klimaerwärmung verantwortlich. Würden alle KonsumentInnen der Erde die Entscheidung treffen, keine Urlaubsflüge mehr zu buchen, hätte das so gut wie keinen messbaren Effekt auf die Entwicklung des Klimas. Würde man dagegen die politische Entscheidung treffen, eine massive weltweite Aufforstungskampagne zu finanzieren, öffentliche Verkehrsmittel gratis zu machen, die Verfeuerung fossiler Energiequellen komplett durch emissionsarme Energiequellen zu ersetzen und die gesamte Industrieproduktion planwirtschaftlich zu organisieren und ihr die jeweils emissionsärmsten Produktionsmethoden zu verordnen, wäre die Klimakatastrophe höchstwahrscheinlich abgewendet.
Wenn jemand durch individuelle Konsumentscheidungen einen kleinen Zusatzbeitrag leisten möchte, um sich wenigstens das Gefühl zu verschaffen, irgendwas zur Linderung der Krise beigetragen zu haben: Gern, das ist ein ehrenwerter Vorsatz. Wer diese Krise aber tatsächlich lösen will, darf sich nicht von der Bourgeoisie und ihren Medien das Märchen aufbinden lassen, die Frage, wie er in den Urlaub reise oder was er im Supermarkt kaufe, sei der ausschlaggebende Faktor und er eigentlich der Schuldige am Weltuntergang, wenn er nach Mallorca oder Hurghada fliegt, Das Ausschlaggebende ist die Frage, ob wir es durch kollektives politisches Handeln schaffen, die unsere Zivilisation zerstörende Bande von KapitalistInnen und ihr politisches Personal zu stürzen und eine vernünftig geordnete Weltwirtschaft zu schaffen. Entscheidend ist nicht, welche Konsumpräferenzen Max Mustermann als Individuum hat – sondern ob zig Millionen Max Mustermänner es schaffen, sich kollektiv zu organisieren und zu kämpfen, um den Laden zu übernehmen und so einzurichten, dass ihre Bedürfnisse nicht nur heute, sondern auch in 50 Jahren und auch für ihre Kinder und Enkel gesichert werden können.
(Fabian Lehr auf facebook)

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