Mobilität – Venedig als Vorbild für Reutlingen

Bei den Reutlinger Linken hat der Experte Winfried Wolf sein Zukunftskonzept präsentiert.

23.06.2017 von Matthias Reichert, Schwäbisches Tagblatt
 

Eine flammende Rede wider die „Verkehrs-Inflation“: Nicht die Zahl der Wege habe hierzulande zugenommen, sondern die Entfernungen. Das werde etwa bedingt durch weitere Pendlerwege als früher. Diese Diagnose hat der Verkehrsexperte Winfried Wolf am Mittwochabend bei den Reutlinger Linken gestellt.

Vor einem Dutzend Zuhörer im griechischen Restaurant „Mylos“ nannte Wolf Zahlen, wie sich der Verkehr in Reutlingen zusammensetzt: 53 Prozent aller Wege würden hier mit dem Auto zurückgelegt – mehr als im Bundesdurchschnitt. In der Autostadt Reutlingen kämen 570 Autos auf 1000 Einwohner. Bundesweit seien es 530.

22 Prozent der Wege würden in Reutlingen zu Fuß zurückgelegt, 15 Prozent mit dem Fahrrad. Auffällig sei der niedrige Anteil von nur 10 Prozent der Strecken, für die öffentliche Verkehrsmittel genutzt würden. Das nannte Wolf „katas-trophal“. Teuer sei der ÖPNV genau dann, wenn er bloß von wenigen genutzt werde.

Als Beleg verglich Wolf das mit dem Berlin der 1920er-Jahre. Damals seien dort 2,2 Milliarden Fahrten im Jahr mit öffentlichen Verkehrsmitteln unternommen worden. Die Berliner Verkehrsbetriebe hätten vor bald hundert Jahren zehn Pfennig pro Fahrt verlangt – und dennoch Gewinn gemacht.

 

Seither wurde, ob in Berlin, Ravensburg oder in Reutlingen, das Straßenbahnnetz aufgegeben. In Berlin wurde der öffentliche Verkehr unter die Erde verlegt, was 10 bis 15 Male so teuer sei, kritisierte der Journalist. Entsprechend warb Wolf für die hiesige Regionalstadtbahn. Geld sei genügend da. Allein für das Bahnprojekt Stuttgart 21 und die Schnellbahntrasse von Wendlingen nach Ulm würden 16 Milliarden Euro verpulvert.

Wolf nannte Mosaiksteine aus anderen Städten für eine gut organisierte Mobilität: Zunächst ein Fahrradnetz wie in Münster, wo der Anteil des Radverkehrs zwischen 30 und 40 Prozent liege. Dann eine oberirdische Straßenbahn wie in Zürich, an der die Bürger über die Jahre in zwei Volksentscheiden festhielten. Diese Bahn decke in Zürich etwa denselben Verkehrsanteil ab wie die Fahrräder in Münster.

Wolf verlangte auch kleinteilige Strukturen wie in Venedig – kleine Läden, regionale Märkte, viele dezentrale Kindertagesstätten. Zuvor hatte Wolf mit vielen Zahlen diese Strukturen der Lagunenstadt mit Reutlingen verglichen. Als letzten Baustein nannte der Experte einen Nulltarif im ÖPNV, wie ihn die estnische Hauptstadt Tallin vor vier Jahren eingeführt hat: „Da könnte ein Sozialticket in Reutlingen ein Einstieg sein“, warb Wolf.

Diese „vernünftige Utopie“ setze sich freilich nicht durch. Denn die Öl-, Auto- und Reifenkonzerne sowie die Flugzeugbauer drückten mit geballter Kapitalmacht und Lobbyisten ihre Interessen durch, kritisierte Wolf. Der Politologe diagnostizierte eine „Vergötterung des Autos mit dem Öl als Religion“ im Kapitalismus.

Geschätzte 70 Prozent der Bürger wollten den öffentlichen Verkehr fördern, wusste der Experte. Doch stattdessen befördere die Öl- und Autolobby den Klimawandel und zerstöre dadurch Menschheitsperspektiven. /Archivbild: Metz

 

Bekannt als Kritiker von Stuttgart 21

Der gebürtige Horber Winfried Wolf ist in Ravensburg aufgewachsen. Der heute 68-Jährige studierte in Freiburg und Berlin Politologie. Er selbst hat einmal gesagt, er sei ein von Rosa Luxemburg und Leo Trotzki beeinflusster Sozialist. 1994 bis 2002 saß Wolf für die damalige PDS im Bundestag, später trat er aus der Partei aus. Seit 2008 ist er Chefredakteur der linken Wirtschaftszeitschrift „Lunapark 21“. Wolf hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und sich einen Namen als Kritiker des Bahnprojekts Stuttgart 21 gemacht. Auch seine Reutlinger Rede hat er mit den Worten „oben bleiben“ beendet.

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