Sebastian: Raus aus dem Wohlstands-Ohrensessel

Vier Wochen lang ist die Reutlinger Vesperkirche nun wieder geöffnet – und somit auch wieder vier Wochen lang ein deutliches Zeichen für die Ungerechtigkeit in dieser Welt. Foto: pr

Vier Wochen lang ist die Reutlinger Vesperkirche nun wieder geöffnet – und somit auch wieder vier Wochen lang ein deutliches Zeichen für die Ungerechtigkeit in dieser Welt. Foto: pr

Sebastian-Kommentar im Reutlinger Wochenblatt vom 21.01.2016
Es hätte kaum besser passen können: Am Sonntag begann die Reutlinger Vesperkirche und nur einen Tag später kam die Meldung der Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam: Auf dieser Welt besitzen 62 Menschen so viel Geld wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Was für eine unsägliche Ungerechtigkeit. Die Schere zwischen Arm und Reich geht also immer weiter auseinander: Genau diesen Punkt hatte auch Pfarrer Jörg Mutschler am Sonntag in der Vesperkirche aufgegriffen: »Die Seuche der Armut« müsse endlich bekämpft werden, forderte er. Und dazu gelte es nicht allein, den armen Menschen auf der ganzen Welt helfend unter die Arme zu greifen, sondern endlich auch den Reichtum besser, gerechter zu verteilen. Gleiches hatte auch Oxfam hervorgehoben: Der steigende Reichtum der ganz wenigen, habe damit zu tun, dass sie ihre Methode perfektionieren würden, um ihr Geld noch weiter zu vermehren. Mit Steueroasen zum Beispiel. »Es ist schlicht inakzeptabel, dass die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung nicht mehr besitzt als ein paar Dutzend superreiche Menschen, die in einen Bus passen würden«, sagte Oxfam-Chefin Winnie Byanyima. Das Schlupfloch der weltweiten Geld-Oasen müsse also endlich gestopft werden, denn: Wenn dieses geparkte Vermögen besteuert würde, so die Hilfsorganisation, dann brächte das 190 Milliarden Dollar pro Jahr, um die Armut besser bekämpfen zu können.

Aber, und das wurde auch beim alternativen Neujahrsempfang eine Woche zuvor im franz.K verdeutlicht: Die reichen Staaten der Welt tragen massiv zur Zementierung der Ungerechtigkeit bei – und damit sind die Industrieländer auch selbst mitverantwortlich für die weltweit mindestens 60 Millionen Menschen, die sich auf der Flucht befinden. Wie das funktioniert? Deutschland etwa ist einer der größten Waffenexporteure der Welt und unterstützt damit Kriege, Terror und Morden. Und deutsche Unternehmen sind beteiligt an der Ausbeutung von Rohstoffen in Entwicklungsländern, ohne dass die Bevölkerung dort davon profitiert. Deutschland ist aber auch profitierender Teil des (völlig ungerechten) Weltwirtschaftssystems und somit auch mitverantwortlich für die Belegung von »Schutzzöllen« auf landwirtschaftliche Produkte aus der sogenannten »Dritten Welt«. Als Teil der EU trägt Deutschland obendrein mit dazu bei, dass vor afrikanischen Küsten kaum noch Fische zu finden sind.

Pfarrer Jörg Mutschler sprach zum Beginn der Reutlinger Vesperkirche von der »Seuche der Armut – und auch wir sind Seuchenträger, wenn wir zulassen, dass die Armut immer weiter um sich greift«. Natürlich kann man aus Sicht eines Reichen die ganze Angelegenheit auch ganz anders sehen: »Eure Armut kotzt mich an«, hatte der Vesperkirchen-Geistliche als Aufkleber auf einem dicken, fetten Fahrzeug gesehen. Womöglich findet der Besitzer diese Aussage auch noch witzig.

Wäre es an dieser Stelle nicht an der Zeit, um endlich mal zu sagen: Diese ungerechte Welt kotzt mich an? Dieses ausbeuterische System, das nicht nur dazu beiträgt, dass arme Länder immer ärmer werden, sondern maßgeblich dafür die Verantwortung trägt? Wäre es nicht endlich an der Zeit, dagegen anzugehen, dass die Reichen zwangsläufig immer noch reicher werden? Und die Armen immer noch ärmer? Wenn wir es uns nur nicht so bequem gemacht hätten, in unserem Wohlstandsgesellschafts-Ohrensessel. Doch die große Zahl der Flüchtlinge ist ein Zeichen dafür, dass es an der Zeit ist, uns endlich aus dem Sessel zu erheben. Viele Freiwillige haben es schon getan und engagieren sich in Asylarbeitskreisen. Viele andere Ehrenamtliche bringen sich in den kommenden vier Wochen in die Vesperkirche ein. Doch das wird nicht genügen, wie Jörg Mutschler verdeutlichte: »Es reicht nicht aus, ein wenig vom Überfluss abzugeben.« Auch die große Politik ist gefragt. Die ganz große.

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