Skandalöse Sanktionen: Inge Hannemann über Missstände, Macht und Morddrohungen

Jobcenter-Kritikerin im Haus der Jugend

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„Dass ich suspendiert werde, damit habe ich gerechnet“: Inge Hannemann (rechts) in Reutlingen.
Daneben die Linken-Kreisrätin Petra Braun-Seitz. (Bild: Haas)

Die bundesweit bekannte Jobcenter-Kritikerin Inge Hannemann aus Hamburg hat auf Einladung der Linkspartei in Reutlingen und Tübingen die Sanktionspraxis bei Hartz-IV-Empfängern angeprangert.
Von Matthias Reichert, Schwäbisches Tagblatt, 26.02.2014

Reutlingen. Sie ist für die Arbeitsagentur das, was Edward Snowden für die NSA ist: Inge Hannemann arbeitete seit 2005 beim Jobcenter in Hamburg-Altona. Und wurde bekannt durch ihre Kritik an der Sanktionspraxis bei Hartz-IV-Empfängern. In Blogs, Zeitungen und Talkshows geißelt sie die gängige Praxis. Im April 2013 wurde sie dann suspendiert – wegen öffentlicher Kritik, hieß es. Seither streitet sie vor dem Arbeitsgericht mit dem Jobcenter. „Die Sanktionspraxis ist skandalös“, sagte Hannemann am Dienstagabend bei den Linken im Reutlinger Haus der Jugend; tags darauf sprach sie im Tübinger Bürgerheim. „Wir haben keinen Ermessensspielraum.“ Wohl aber einen Handlungsspielraum – den habe sie etwa bei fehlenden Fristenvorgaben ausgeschöpft. Kollegen würden die Sanktionen kumulieren, teils nach Monaten gleich 50 Prozent oder mehr vom Arbeitslosengeld II streichen. Dabei seien selbst zehn Prozent zu viel, weil das Geld gerade das Existenzminimum abdecke.
Sanktionen seien „ein wahnsinniges Machtinstrument“. Der Druck treibe die Hartz-IV-Empfänger in Lethargie. „Manche öffnen die Briefumschläge gar nicht.“ Die Drohung, Zeitarbeit anzunehmen oder andernfalls sanktioniert zu werden, löse Panik aus: „Das darf nicht sein.“ Manche Jobcenter-Mitarbeiter nutzten ihre Macht aus, manche handelten aber auch emphatisch.
Hannemann berichtete von der Infoveranstaltung einer Zeitarbeitsfirma in den Räumen des Jobcenters, mit dem diese kooperiere. Die Türen seien geschlossen worden und die Teilnehmer, die aus Furcht vor Sanktionen da waren, hätten Personalfragebögen ausfüllen müssen. Sie sei eingeschritten, der Wachdienst habe sie hinausgebracht. Es gebe 700 Zeitarbeitsfirmen in Hamburg. „Ein Drittel kenne ich. Drei davon sind gut.“
Die 45-Jährige sprach Agenturinterna an, etwa die oft fehlende Ausbildung der Jobcenterleute in Verwaltungsrecht. Freilich treffe es nicht zu, dass diese Leistungsprämien kassierten, wenn sie hart sanktionieren. Solche Prämien kriegten nur Führungskräfte – für Erreichen oder Übertreffen der Integrationsquote. Hannemann fordert die Abschaffung der Sanktionspraxis. Auch mit Hartz IV solle Schluss sein.
Sie tritt für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Doch dafür müsse man erst gesellschaftliches Bewusstsein schaffen. Mit den Linken fordert sie eine repressionsfreie Mindestsicherung. Die Regelleistungen für Arbeitslose müssten erhöht werden, die Löhne steigen. Niedriglöhne gehören ihrer Ansicht nach abgeschafft. Die Agenda 2010 sei „ein gewolltes Zwangssystem“ – für Arbeitslose wie für Jobcenterleute.
Zwei Morddrohungen habe sie schon von Kollegen gekriegt. „Die haben es dämlich gemacht, die haben aus dem Büro angerufen.“ Vorgehen wolle sie dagegen nicht – „ich will keinen Krieg“. Hannemann kritisierte, dass die Arbeitsagentur ihre Statistiken schönige, vor allem Ältere in „sinnlosen Maßnahmen“ parke. Und mit 63 würden die Arbeitslosen ohne Rücksicht auf Verluste von der Agentur in Rente geschickt.
Aus Erfahrung wisse sie, dass das Jobcenter jungen Menschen keine Ausbildung vermittle – denn dafür sei die Berufsberatung zuständig. „Die Jungen wollen eine Ausbildung machen – die wissen nur nicht, wie und was.“ Dreimal habe sie sich geweigert, mit jungen Leuten sogenannte Eingliederungsvereinbarungen abzuschließen, was ihr die Arbeitsagentur jetzt vorwerfe. Einer sei geistig behindert gewesen, zwei psychisch krank, verteidigte sie sich.
„Dass ich suspendiert werde, damit habe ich gerechnet.“ Ihren Prozess will Hannemann durchfechten bis zum Europäischen Gerichtshof. Am Freitag ist die vierte Runde vor dem Hamburger Arbeitsgericht. „Ich rechne damit, dass ich verliere. Das Gericht versteht die Komplexität nicht. Ich wurde gar nicht angehört.“
Verdi kündigte ihr den Rechtsschutz auf. Die Gewerkschaft Verdi habe ihr beim Arbeitsgerichtsprozess mit Verweis auf angebliche Vergleichsgespräche den Rechtsschutz aufgekündigt, erzählte Hannemann. „Sie sagen, ich hätte den Anwalt im Vorfeld beantragen müssen. Die haben einen Grund gesucht.“ Die Linken hätten ihr einen neuen Anwalt gestellt. Die Klage basiere nun auf der Verfassungswidrigkeit von Hartz IV und umfasse 71 Seiten. „Die wird man wahrscheinlich gar nicht lesen.“

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