Bei der hier dargestellten Verkehrswende geht es um den Individualverkehr und um eine Abkehr von der bisherigen Priorisierung des PKW. Nicht behandelt hat der AK Linke Themen bisher den Bereich der Logistik, der insbesondere durch Veränderungen in den Wertschöpfungsketten und im Handel großen Veränderungsprozessen unterliegt. Soweit uns ersichtlich, gibt es dazu noch kein linkes Konzept zu einer Logistik-Umgestaltung auf dem Hintergrund des nötigen sozial-ökologischen Umbaus. Wir wollen das Thema weiter behandeln.
Um die einzelnen Maßnahmen einer neuen Mobilität in der Region Reutlingen besser einordnen zu können, werden zunächst einzelne Leitbilder entwickelt, aus denen Zielsetzungen abgeleitet werden. Die Leitbilder sind normativ gesetzt und orientieren sich an dem übergreifenden Leitbild einer bedarfsorientierten und autobegrenzenden Nachhaltigkeitsvision. Damit ist zum einen gemeint, dass ein wirksamer Klimaschutz nicht ohne eine tiefgreifende Verkehrswende erreichbar ist. Zum anderen geht es nicht „gegen das Auto“, sondern um nachhaltige und bessere Formen individueller Mobilität. Unter sozialen Aspekten geht es eher um mehr als um weniger Mobilität. Neue Mobilitätsformen mit weniger, aber wirklich nachhaltigen Autos bei sozial gerechter Mobilität – das ist die Zukunftsvision.
Aus den Zielsetzungen ergibt sich dann ein – nicht abgeschlossener – Katalog von Maßnahmen, die dann priorisiert, zeitlich gestaffelt und schrittweise politisch umgesetzt werden müssen. Die Geschwindigkeit der Umsetzung orientiert sich an der Notwendigkeit des Klimaschutzes. Alles muss angegangen werden, die für eine CO2 Reduktion wirksamsten Maßnahmen aber zuerst.
Was kostet das und wer bezahlt es? Wie die Energiewende wird auch die Mobilitätswende hohe Transformations- und Konversionskosten auslösen. Das ist jetzt schon bei den Forderungen der Auto- und Zulieferindustrie nach Kompensationszahlungen bei der Umstellung auf E-Mobilität zu sehen. Das ist aber erst die Spitze des Eisbergs. Letztlich geht es um eine gesamtgesellschaftliche Verteilungsauseinandersetzung, die nur über Veränderungen in der Sekundärverteilung und kurzfristig über zusätzliche Kreditfinanzierung lösbar ist. Doch dies ist nicht auf kommunaler Ebene, um die es hier vorrangig geht, zu verändern. Die Kommunen können autonom lediglich Abgaben erheben und die Hebesätze für Kommunalsteuern festlegen, bei den sonstigen Steuerfestlegungen sind sie von Bund und Ländern abhängig. Sie haben insbesondere keine Freiheit, die ‚Schwarze Null‘ in der Finanzpolitik abzuschaffen. Da aber die kommunale Ebene die Maßnahmen überwiegend umsetzten muss, um Nachhaltigkeit und die Einhaltung der CO2 Ziele zu erreichen, geht an einer grundlegenden besseren finanziellen Ausstattung der Kommunen kein Weg vorbei.
Leitbild einer kommunalen Verkehrswende
Das Leitbild einer autogerechten Stadt mag inzwischen langsam verblassen, es prägt aber immer noch die mobile Infrastruktur in der Stadt und auf dem Lande. Die gebaute Wirklichkeit überdauert Änderungen in den Einstellungen der Menschen. Neue Leitbilder materialisieren sich erst im Lauf der Zeit. Die klare Abkehr von der autogerechten Stadt heißt auch, sich auf schnellere Umwandlungen einzustellen. Dauerte der Aufbau der Strukturen einer autogerechten Stadt mehr als 50 Jahre, zwingt uns der Klimawandel nun zu schnellerem Wandel.
Es gilt in Zukunft, die Ansprüche der Menschen an lebenswerte Stadtqualitäten, ein gutes Wohnumfeld und die Ansprüche der Gesellschaft an eine klima- und umweltschonende Mobilitätsgestaltung in den Mittelpunkt zu stellen.
Die Situation außerhalb der Städte und des städtischen Umlands, auf dem Land, ist eine völlig andere. Viele Menschen sind dort bisher aufs Auto angewiesen oder müssen ihre Mobilität einschränken. Ein leistungsfähiger ÖPNV ist hier häufig nicht umsetzbar, motorisierter Individualverkehr ist nicht vollständig zu ersetzen. Umso wichtiger ist die schnelle Umstellung auf umweltverträgliche Antriebe. Insgesamt brauchen wir einen Mix aus verschiedenen Verkehrsmitteln, die in einem Umweltverbund aufeinander bezogen sind.
Ziele einer Verkehrswende
Das bedeutet auch eine Abkehr vom Konzept einer gleichgewichtigen Existenz verschiedener Verkehrsmittel, darunter auch das Auto. Die Verkehrsmittel eines Umweltverbundes sind gegenüber dem individualisierten Individualverkehr zu priorisieren.
Gegenüber dem Auto Vorrang haben sollen:
• Fußwege, Mobilität zu Fuß
• Radfahren
• Busverkehr
• Schienengebundene Verkehrssysteme/Regionalstadtbahn
• Ride-pooling (bedarfsgesteuerter Flächenbetrieb), Car Sharing
• Taxi/Sammeltaxi
Es geht hier nicht nur um zu viel und vielfach unnötigen Autoverkehr. Es geht auch um mehr Lebensqualität. Menschen und Unternehmen soll Mobilität ermöglicht werden. Und diese soll zugleich ökologisch verträglich, sozial verpflichtet und gerecht sowie ökonomisch effizient sein. Eine so verstandene Verkehrswende schafft viele Gewinne für die Menschen, für die Umweltqualität und für die Stadt.
Die Menschen gewinnen:
• Mehr Ruhe
• Eine gesündere Atemluft
• Aktiven Klimaschutz
• Verbesserte Verkehrssicherheit
• Höhere Wohnumfeldqualität
• Freien Bewegungsraum für Kinder
• Erweiterte und umweltschonende Mobilitätsmöglichkeiten für alle
• Eine lebenswerte Stadt
Die Gewinne übertreffen die Verluste, die es auch gibt: Wenn künftig in der Stadt nicht mehr jederzeit und überall beliebig Autos ohne Einschränkungen gefahren und abgestellt werden dürfen.
Operationalisierung der Ziele
Die übergreifenden Ziele müssen zeitlich definiert und im Umfang quantifiziert werden, um in der Kommunalpolitik zu sehen, wie weit die Realisierung gediehen ist, welchen Beitrag Verkehrsprojekte bei der Zielerreichung leisten und was noch zu tun ist.
Beispiele:
• Reduktion von Kohlendioxidemissionen aus dem Verkehr um 90% bis 2050 (oder eher) gegenüber dem Basisjahr 1990
• Eine Verringerung tödlicher Unfälle auf Null.
• Eine Verringerung der Zahl von Schwerverletzen Unfallopfern auf Null.
• Eine Verringerung von Lärmemissionen um 10 dB gegenüber den heute vorgeschriebenen Werten an den Durchfahrtsstraßen bis 2040.
• Eine Verringerung des Landschaftsverbrauchs durch flächenversiegelnde Verkehrssysteme bzw. deren Rückbau.
• Beim Modal-Split ( Verteilung des Verkehrsaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel ) deutliche Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs zu Gunsten von Fuß- und Radverkehr, Bussen, Bahnen und Verkehrsvermeidung.
Solche Operationalisierungen müssen in der Stadt zivilgesellschaftlich und stadtpolitisch diskutiert und definiert werden, um einen Maßstab zum Stand der Verkehrswende zu bekommen.
Maßnahmen
Schließlich bedarf es konkreter Maßnahmen zur Zielerreichung. Diese sollen hier nach drei Kategorien aufgeführt werden. Die jeweils aufgeführten Maßnahmen sind exemplarisch und nicht abschließend.
Maßnahmen zur Verkehrsvermeidung:
• Stadt der kurzen Wege: Mischung von Arbeiten, Wohnen, Einkaufen und Freizeit/Kultur
• Vermeidung von ‚Schlafstädten‘, Mischnutzung auch in Wohngegenden und umgekehrt auch Gewerbegebiete zur Mischnutzung mit Wohnen umzonen. In Gewerbegebieten sind häufig schon Freizeitmöglichkeiten wie Fitness und Gastbetriebe vorhanden.
• Umkehr bei der Zersiedlung und des Wegzugs von Bewohnern in die Vorstädte.
Vorrang der Binnenverdichtung bei gleichzeitiger Qualitätsverbesserung
• Quartierparkhäuser fürs Anwohnerparken
• Anwohnerparken auf Straßen mit einer Gebühr versehen
Maßnahmen zur Verkehrsverlagerung. Verlagerung entsprechend der o.a. Vorrangliste
(siehe Leitbild):
• Flächendeckendes Tempolimit innerorts auf 30 km/h; Tempolimit auf Durchgangsstraßen auf 50 km/h
• Autofreie Altstadt
• Verringerung der Parkflächen und der auf den Straßen ausgewiesenen Parkplätze
• Verlagerung von Parkmöglichkeiten in Parkhäuser und Tiefgaragen
• Umwandlung von Fahrspuren des motorisierten Individualverkehrs in Spuren für Busse, Fahrräder und Taxis
• Park & Ride Stationen im Umland zum Umstieg von auf dem Land wohnenden Pendlern auf Busse und auf die Regionalstadtbahn
• Masterplan Fußverkehr: Fußwege begrünen, vom Autoverkehr abgrenzen, breit und mit angenehmer Gestaltung
Maßnahmen zur Verbesserung der Mobilität in der Stadt und im Landkreis
• Blaue Plakette als zusätzliche vierte Schutzstufe für eine weitgehend emissionsfreie Klimazone
• Emissionsfreier Busverkehr/O-Busverkehr
• 30/50 km/h Zonen (s.o.)
• Durchgängige Radverkehrswege in der Stadt
• Radschnellwege ins Umland
• Anlegen von Radwegen zwischen kleineren Städten und Dörfern auf dem Land
• Regionalstadtbahn auch bis Eningen und auf die Alb
• Vertaktung von Bahn, Regionalstadtbahn und Busverkehr.
• Ticketfreier ÖPNV
• Einsatz von Großraumtaxis ‚on demand‘ auf dem Land zu günstigen Tarifen und Zugriff darauf über eine eigene Plattform
Beim Verkehrsumstieg kommt es besonders auf eine aufklärende und mitnehmende Informations- und Bildungsarbeit an. Die Mobilitätsalternativen müssen aufgezeigt und die Vorteile der Wende für die Menschen dargelegt werden. Insbesondere für die ärmeren Schichten ist mehr Mobilität ausdrücklich erwünscht: Teilnahme an zivilgesellschaftlichen Organisationsformen, Mitgliedschaften und Mitarbeit in Vereinen, Initiativen, Gewerkschaften und Parteien, Kultur, Freizeit und Freundeskreise.
Die Vorteile einer Mobilitätswende sind umfassend: Sie betreffen nicht nur die Menschen als Individuen. Zur Planung, Ausgestaltung und Weiterentwicklung menschengerechter Mobilität bedarf es nicht nur der etablierten Politik. Bei ‚Runden Tischen‘ oder in Mobilitätsräten sollten Kommunen, Regionen, NGO’s, Gewerkschaften, Unternehmen, Handel, Initiativen ihre jeweiligen Vorstellungen einbringen, abstimmen und Vorschläge an die Politik machen. Die demokratisch gewählten politischen Repräsentanten haben aber die letztendliche Verantwortung über den Ressourceneinsatz, d.h. die Verwendung von Steuermitteln und für das Erreichen der klimapolitischen Ziele und der qualitativen Verbesserungen städtischer Mobilität.
Exkurs: Mögliche konkrete Projekte zur Verkehrswende für Reutlingen
Radverkehr
• Mikromobilitätsspur (-wege) – statt partikular nur Radfahrerinteressen zu berücksichtigen (wegen der Vielfalt neuer Fahrzeuge)
• Mehr überdachte Fahrradabstellplätze, sichere Abstellplätze für E-Bikes, Abstellplätze für Lastenbikes
• Rad- und Lastenradverleih
• Ausbau von Radhauptachsen
• Bevorrechtigungen des Radverkehrs gegenüber dem Kfz-Verkehr. Die Einführung z. B. von Vorlaufzeiten (Signaltechnik) oder der „Grünen Welle“, die Installation von Haltegriffen oder Induktionsschleifen an Bedarfsampeln etc. tragen zur steigenden Fahrradnutzung bei.
• City-Logistik mit Lastenbikes, Elektro-Lieferwagen (Mikro-Verteilstationen)
• Lieferdienst per Lastenbikes der Reutlinger Einzelhändler (Gemeinsamer Online-Shop)
Fußverkehr
• Gehwege, Überwege und Bushaltestellen sicher und breit gestalten
• Fußgängerfreundliche Ampelschaltungen
Sonstiges
• Verkehrsverbund übergreifende Tickets
• Einrichtung autoarmer Modellquartiere
• Autonom fahrende ticketfreie Busse in der Innenstadt
• Ausdehnung der Parkraumbewirtschaftung
• Einrichtung einer Steuerungs- und Koordinationseinheit „Masterplan für die Gestaltung nachhaltiger und emissionsfreier Mobilität“ in der Stadt Reutlingen.
• Digitale Plattformen (Apps) zur Vernetzung der verschiedenen Mobilitätsangebote (ÖPNV, Car-Sharing, Leihfahrrad).
3.6.2020 Kreisverband DIE LINKE Reutlingen und LAK Reutlingen