Zeitreise mit Sahra Wagenknecht

Kommentar im Schwäbischen Tagblatt vom 03.2013

Wenn auf die Worte Lenins noch Verlass ist, dann braucht niemand davor Angst zu haben, dass es die Partei der Linken jemals schaffen wird, den Kommunismus in Deutschland (wieder) einzuführen. So hat Lenin auf dem gesamtrussischen Sowjetkongress 1920 diese Gleichung aufgestellt: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Nun ist eine Sowjetmacht derzeit in Deutschland alles andere als in Sicht, aber die Reutlinger Linken scheitern schon am einfacheren Teil der Leninschen Formel: Als Sahra Wagenknecht Ende vergangener Woche vor der Reutlinger Marienkirche sprechen sollte, war das Mikrofon mausetot (wir berichteten).

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Während die Reutlinger Vertreter des demokratischen Sozialismus fieberhaft versuchten, dem elektronischen Verstärker Töne zu entlocken, machte Wagenknecht gute Miene zum stummen Spiel. Dann stieg die stellvertretende Bundesvorsitzende der Linken kurz entschlossen auf das improvisierte Podest, ließ die etwa 250 Zuschauer näher heranrücken und zog einfach ohne Mikrofon gegen die politische Konkurrenz vom Leder. Wie sie da mit klarer Stimme und sparsamen Gesten den technischen Unzulänglichkeiten problemlos trotzte, nahm sie die gebannt lauschende Menge mit auf eine Zeitreise. In diesem Winkel hinter der Marienkirche durfte sich das Publikum mit Wagenknecht um 100 Jahre zurückversetzt fühlen in die Zeit der Arbeiterbewegung, als Rosa Luxemburg, mit der die Linken-Politikerin gerne verglichen wird, ebenfalls ohne Hilfsmittel ihre großen Reden hielt. Derweil mühten sich die Reutlinger Gastgeber, allen voran der Bundestagskandidat Günter Herbig, tapfer, das Mikrofon doch noch zum Verstärken zu bringen: Sie schleppten Kabeltrommeln herbei, verbanden die Leitungen miteinander – und mussten doch wieder kapitulieren vor der Technik, die einfach keinen Ton über den Verstärker kommen ließ. Zum Glück, muss man sagen. Denn es war ein akustischer und optischer Genuss, Wagenknechts Reutlinger Rede ohne Mikrofon vor ihrem Gesicht zu verfolgen. Die Stimme hielt, die Botschaft war klar, das Publikum hörte ergriffen zu. Nur gegen die Marienkirche hatte die stellvertretende Parteivorsitzende keine Chance: Als um 17 Uhr die Glocken läuteten, musste Wagenknecht vor dem mächtigen Klang kapitulieren – ihre Abschiedsworte wurden übertönt und waren nur noch von ihren Lippen abzulesen. Während sich die jäh abgewürgte Rednerin nichts anmerken ließ, war Rüdiger Weckmann vom Reutlinger Kreisvorstand der Linken die Mikrofonpanne oberpeinlich, da er die Anlage besorgt hatte. „Eigentlich hat die Saft für sechs Stunden, doch diesmal hat sie nach 30 Minuten schlapp gemacht“, ärgert er sich. Deshalb wurden nur die musikalischen und verbalen Beiträge vom Bundestagskandidaten Günter Herbig und die Ansprache der Tübinger Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel verstärkt – exakt bei Wagenknechts Einsatz war Sendepause. Als Weckmann die Anlage Anfang der Woche zurückbrachte, sei auch der Verleiher sprachlos gewesen. Immerhin müssen die Linken keine Sabotage fürchten. „Der Mann ist politisch neutral“, sagt Weckmann. Er weiß jetzt auf jeden Fall, dass für seinen Kreisverband künftig die Formel gilt: „Bundesprominenz plus Elektrifizierung des Mikrofons gleich Wahlkampf“.

 
THOMAS DE MARCO

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