Interview mit Jessica Tatti in der Südwestpresse

Höhere Steuern ab 7100 Euro Bruttoverdienst

Jessica Tatti (Die Linke) möchte von Listenplatz 5 aus in den Bundestag. Eine Vermögenssteuer ab der zweiten Million auf dem Sparbuch und höhere Steuern für Einkommen ab 7100 Euro brutto sollen für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.

Foto: Thomas Kiehl
Jessica Tatti (Die Linke): „Ob immer neue Straßen das Problem lösen können?“

 

Zum Gespräch mit unserer Zeitung ist Jessica Tatti mit der Bahn angereist. Öffentliche Verkehrsmittel stehen auch bei den Linken hoch im Kurs. Darin unterscheidet sich die Oppositionspartei kaum von der Konkurrenz.

Durchaus schärfer grenzen sich die Linken in anderen Punkten ab. Die Einführung einer Vermögenssteuer und ein höherer Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer gelten noch, wie alles in der Politik, als diskussionswürdig. Mit dem Ruf nach einer europäischen Verteidigungspolitik, die auch Russland mit einbezieht, haben sich die Linken dieser Tage harsche Kritik anhören müssen. Die SPD kanzelte sie gar als nicht regierungsfähig ab. Dabei, so Jessica Tatti, „sind wir in diesem Punkt kompromissbereit.“ Insofern, dass Die Linke diese Forderung für diese Legislaturperiode aussetzen würde.

Frau Tatti, Sie sind vom Bahnhof aus zu Fuß zu unserem Verlagsgebäude gelaufen. Haben Sie wenigstens einen kurzen Abstecher in eine der Hochburgen kapitalistischer Konsum- und Verwertungslogik gemacht? Waren Sie in der Outletcity?

Nein, ich bin über die Ulmer und Mühlwiesenstraße zu Ihnen gekommen.

Und Sie haben sich gleich die Straßennamen gemerkt, als wären Sie in der Gegend aufgewachsen.

Straßennamen kann ich mir gut merken, ich könnte vielleicht auch Taxifahrerin werden.

Was aber nicht Ihr eigentliches Berufsziel ist. Das heißt nämlich Bundestagsabgeordnete. Ihrer Partei sagt man nach, Verantwortung in der Regierung zu scheuen. Dieser Verdacht liegt insofern nah, als Sie in der Verteidigungspolitik die Nähe zu Russland suchen. Sind die Linken also gar nicht regierungsfähig?

Unser Parteitag wurde vor allem in der Frage Regieren oder Opposition unter die Lupe genommen. Wir bewerben uns aber mit unserem Programm bei den Wählern, nicht bei der SPD. Koalitionsverhandlungen bedingen eine Mehrheit nach der Wahl. Aktuell schwächeln SPD und Grüne in den Umfragen, nicht Die Linke.

Wenn Sie regieren wollen, kommen Sie nur schwerlich an der SPD vorbei.

Für uns gäbe es nur die Option rot-rot-grün. Natürlich sind Kompromisse nötig, aber nicht der Ausverkauf von­ Grund­überzeugungen. Mit der Einstellung Regieren um jeden Preis unterschätzt man die Wichtigkeit der Opposition. Schulz hat anfangs mit dem Thema soziale Gerechtigkeit einen Hype ausgelöst, die Schlagworte aber nicht mit Inhalt gefüllt und die Quittung kassiert. Ein starkes Ergebnis für Die Linke kann die SPD bewegen.

 

Sie sprachen von Kompromissen. Wo wollen Sie keine eingehen?

Wir werden nicht mitmachen bei Sozialstaatsabbau, Privatisierung von öffentlichem Eigentum und Kriegseinsätzen. Wir wollen sachgrundlose Befristung, Leiharbeit, Niedriglöhne und unfreiwillige Teilzeit stoppen, das heißt, dass wir über Hartz IV und die Abschaffung der Sanktionen reden müssen. Ohne Steuergerechtigkeit gibt es keine soziale Gerechtigkeit.

Kritiker würden Ihnen entgegnen, Arbeitnehmer wollen gerade diese Möglichkeiten, etwa Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeiten.

Natürlich gibt es Menschen, die Teilzeitarbeit wollen, dazu gehöre auch ich. Es geht uns um unfreiwillige Teilzeit. Mittlerweile arbeiten 40 Prozent der Beschäftigten in Teilzeit, vor allem in Einzelhandel und Pflege. Ab 15 Stunden Wochenarbeitszeit gilt man nicht mehr als arbeitslos und verschwindet aus der Statistik, obwohl viele mehr arbeiten wollen.

Auch in der Flüchtlingsfrage beziehen Sie deutlich Stellung.

Wir wollen eine ehrliche Bekämpfung von Fluchtursachen mit gerechten Handelsstrukturen und dem Stopp von Waffenexporten. Bei der Integration müssen Defizite im Bildungssystem abgebaut werden. Spätestens wenn Asylverfahren abgeschlossen sind, sollten die Menschen raus aus Sammelunterkünften. In Reutlingen wurden diese massiv auch für anerkannte Flüchtlinge gebaut. Das hemmt Integration, fördert Konflikte und ist Wasser auf den Mühlen der AfD. Es braucht bezahlbaren Wohnraum für alle, nicht nur Geflüchtete. Wir fordern fünf Milliarden Euro für 250 000 Sozialwohnungen im Jahr, um den Wohnungsmarkt zu entspannen.

Wo wollen Sie dafür das Geld hernehmen?

Dort, wo es sich stapelt. Wir wollen die Millionärssteuer von fünf Prozent ab der zweiten Million. Das könnte bis zu 80 Milliarden Euro bringen. Geld, das wir für die Daseinsvorsorge wollen: Für Wohnen, gute Pflege, Kitas und Schulen. Zudem wollen wir eine gerechtere Einkommensteuer: Unter 7100 Euro brutto im Monat eine deutliche Entlastung, darüber eine Mehrbelastung. Der Spitzensteuersatz soll zurück auf 53 Prozent.

Objektiv betrachtet hört sich das nach der SPD der späten 70er Jahre an. Warum gehen Sie nicht mit diesen Themen hausieren, sondern buhlen um Russland?

Es verhält sich andersrum: Die SPD greift uns wegen Russland an, um ihre Defizite in der Sozialpolitik zu überdecken. In die Schlagzeilen kommen wir oft, weil in unserem Grundsatzprogramm die Auflösung der Nato steht, zugunsten eines Sicherheitsbündnisses unter Einbeziehung Russlands. Damit sind wir Willy Brandt näher als die SPD. Aber es ist keine harte Haltelinie für die nächste Legislaturperiode, wenn wir soziale und friedenspolitische Themen voranbringen könnten.

Kann man ernsthaft eine Zusammenarbeit mit einem Autokraten wie Putin in Erwägung ziehen?

Bei Erdogan zeigt sich Merkel nicht so scheu. Putin ist nicht unser Liebling. Er ist ein homophober Oligarch, auch er gefährdet Frieden. Aber die Nato provoziert mit Manövern und Aufrüstung an den Ostgrenzen. Wir wollen nicht Putin hofieren, sondern Frieden sichern. Das geht nur mit, nicht gegen Russland, mit Abrüstung und engagierter Entspannungspolitik.

Auf der anderen Seite können einem die Aussagen Trumps auch Angst machen.

Dass sich Europa gegen Trump zum Pariser Klimaabkommen bekannt hat, ist gut, aber auch wir stagnieren bei den Emissionswerten. Ich würde mir wünschen, dass man sich auch gegen das Drängeln Trumps geschlossen zeigt, die Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Für Deutschland hieße das 25 Milliarden mehr fürs Militär. Gleichzeitig wird bei sozialen Themen behauptet, es sei kein Geld da. Auch in der EU wird zu wenig gegen soziale Spaltung getan.

Vielleicht deswegen, weil Deutschland am meisten von der EU profitiert?

Von der EU sollten alle profitieren. Man wirft uns gerne vor, keine einheitliche proeuropäische Haltung zu haben. Das ist falsch. Wir sind eine internationalistische Partei und wenden uns gegen die unsolidarischen Strukturen der EU: Neoliberaler Standortwettbewerb und ungleiche Lebensverhältnisse, das heißt auch, dass wir über Exportüberschüsse reden müssen. Sie schwächen andere Länder und führen zur Abwärtsspirale bei Löhnen, Renten und Sozialleistungen.

Ein beliebter Konsumartikel in Deutschland ist das Auto. Das benötigt Platz, also Straßen. Hilft uns der Scheibengipfeltunnel weiter, oder zieht der nicht automatisch Verkehr an, der wiederum abgeführt werden muss?

Ich befürchte, dass der Tunnel mehr Verkehr anziehen wird. Es ist ein Irrglaube, dass immer neue Straßen das Verkehrsproblem lösen. Wir wollen die Regionalstadtbahn und allgemein das ÖPNV-Netz aus Bus und Bahn sowie Car-Sharing ausbauen, auch in der Fläche. Der öffentliche Personennahverkehr muss so attraktiv werden, dass das Auto stehen bleibt.

Am Verbrennungsmotor hängen Arbeitsplätze. Ein rascher Umstieg auf Elektro-Autos könnte einer Studie zufolge kurzfristig 100 000 Arbeitsplätze kosten.

Der technologische Wandel muss mit Beschäftigten und Gewerkschaften gestaltet werden und für neue, sichere Arbeitsplätze genutzt werden. Nachhaltige Mobilität ist eine große Frage unserer Zeit. Es geht hierbei um unsere Gesundheit und Umwelt, Klimawandel, Fluchtursachen. Unser Schwerpunkt liegt beim ÖPNV. Bei der Bahn wurden 350 000 Arbeitsplätze gestrichen und 100 000 Pflegekräfte fehlen in den Krankenhäusern. Wo sind hier die Widerstände?

Sollte unser Land mehr Geld in die innere Sicherheit investieren?

Die Polizei ist für die innere Sicherheit zuständig und braucht dafür, mit Augenmaß, die nötige personelle Ausstattung. Eine Aufgabenüberprüfung ist erforderlich, um sie zum Beispiel von Bagatelldelikten zu entlasten. Sie darf aber nicht selbst ein Unsicherheitsfaktor sein, wie durch Racial Profiling und Polizeigewalt. Deshalb will Die Linke die Kennzeichnungspflicht und offizielle Beschwerdestellen. Wir wenden uns gegen Geheimdienste, die dem Quellenschutz mehr verpflichtet sind als der Aufklärung von Verbrechen, siehe NSU-Desaster.

Auf der Landesliste der Linken haben Sie den Stellenplatz 5. Reicht das für Berlin?

Aktuell haben wir in Baden-Württemberg fünf Vertreter in Berlin, die Chancen sind also da. Aber es ist nicht selbstverständlich, mit einem guten Zweitstimmenergebnis kann es klappen.

SWP 26.06.2017 – Peter Kiedaisch und Evelyn Rupprecht
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