Redebeitrag – Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus


23.11.2014 – Timo Widmaier DIE LINKE Reutlingen und die Linksjugend [‘solid] Reutlingen
Am Denkmal für die Opfer des Faschismus, Friedhof unter den Linden

Liebe Freundinnen und Freunde,
Liebe Genossinnen und Genossen,
wir haben uns heute hier zusammengefunden, um den Opfern der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik zu gedenken. Doch den Opfern zu Gedenken heißt auch, die Lebenden
zu mahnen. Mindestens genauso wichtig ist es also, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass
Ausschwitz oder etwas ähnliches nicht noch einmal passieren darf. Gerade deswegen sehen
wir uns als junge Menschen in der Verantwortung hier heute Stellung zu beziehen. Denn wir
sind es schließlich, die die Verantwortung dafür tragen, in welcher Form sich unsere
Gesellschaft in der Zukunft gestalten wird. Zu mahnen und zu erinnern, sich immer wieder
aufs Neue mit der Logik von Antisemitismus und Rassismus auseinanderzusetzen, das ist die
Aufgabe einer jeden Generation.
Heute jedenfalls, wollen wir uns weniger mit dem Antisemitismus der damaligen Zeit
befassen, sondern auf die aktuellen Entwicklungen und antisemitischen Denkmuster der
Moderne aufmerksam machen. Antisemitismus äußert sich heute nicht mehr in derselben
Form wie noch vor 70 Jahren und trotzdem sind die Denkmuster und Erklärungsversuche
dieselben geblieben.
Dass der Antisemitismus in Europa in den letzten Wochen einen derartigen Aufschwung
erlebte ist erschreckend, aber keineswegs überraschend. Antisemitische Ressentiments sind
permanent vorhanden und jederzeit abrufbar. Eine Analyse der gegenwärtigen Welle
antisemitischer Ausschreitungen bringt dennoch einige Herausforderungen mit sich. Zum
einen muss klar benannt werden, dass der derzeit auf den meisten Gaza-Soli Demos
geäußerte Antisemitismus nicht primär von deutschen Neonazis ausgeht, sondern von Teilen
der arabisch-muslimischen Szene in Deutschland und Friedensbewegten getragen wird. Eine
emanzipatorisch Linke darf dazu nicht schweigen, weder aus falsch verstandenem
Antirassismus noch aus bündnisstrategischen Überlegungen. Gleichzeitig muss klar gemacht
werden, dass Antisemitismus weder ein Phänomen ausschließlich muslimischer
Communities noch ein „importiertes“ Problem ist.
Schon seit mindestens zwei Jahrhunderten sind die Deutschen davon überzeugt, sie seien
besonders gut. Derzeitiger Favorit in der Begründung dieses erstaunlichen
Selbstbewusstseins ist „unser Lernen aus der Geschichte“. Stolpersteine werden verlegt,
„Nie wieder“ Schwüre sind zum festen Ritual geworden, ein Holocaust-Mahnmal wurde
errichtet. Wie wenig der Nationalsozialismus entgegen allen Beteuerungen aufgearbeitet ist,
zeigt sich allerdings nirgends deutlicher als im völligen Unverständnis des Antisemitismus,
von dem man eigentlich nur weiß, dass er irgendwie schlecht ist. Hätte man ihn hingegen
begriffen, müsste ein regressiver Antikapitalismus, der von „den Gierigen, die uns alle
aussaugen“ phantasiert, auf entschiedenen Widerstand stoßen. Doch ganz im Gegenteil, seit
Beginn der Krise 2008 grassiert er. Dabei wird selbst – nicht ausschließlich, aber in einem
besonderen Maße – von vermeintlichen Linken auf infantilste Art und Weise der Kapitalismus
einer völlig verkürzten Analyse unterzogen und das aus ihm hervorgehende systematische
Elend auf einzelne Akteure, auf „Banker und Manager“, auf die sogenannten
„Heuschrecken“, heruntergebrochen. Der falsche Umkehrschluss, der dabei mitschwingt, ist
beängstigend: „Wenn es diese oder jene Akteure nicht mehr gäbe, dann hätten wir eine Art
>Wohlfühlkapitalismus<“. Eine systematische Kritik wird personifiziert, strukturelle Probleme
auf Einzelne heruntergebrochen, die dann für das Elend der Welt verantwortlich gemacht
werden. Wir sprechen dabei von strukturellem Antisemitismus, denn auch wenn nicht mehr
explizit von „den Juden“ die Rede ist, folgt man der gleichen Logik.
Noch obszöner zeigt sich die Deutsche Selbstgerechtigkeit darin, zu meinen, ausgerechnet
aus der Shoah mehr gelernt zu haben als die Juden selbst. Deswegen sind zwar zwei Drittel
der Deutschen davon überzeugt, vom jüdischen Staat gehe die größte Gefahr für den
Weltfrieden aus, aber Antisemit ist selbstverständlich keiner von ihnen. Es bleibt ein
Geheimnis der Deutschen Linken, wie man sich als Antifaschist und vermeintlich
emanzipatorische Kraft an Demonstrationen und Kundgebungen beteiligen kann, aus denen
heraus Synagogen, sowie Juden und Jüdinnen angegriffen werden und der jüdische Staat als
der Hort des Bösen auf dieser Erde erklärt wird. Wer sich nach wie vor frägt: „Ist das noch
berechtigte Israelkritik?“, der ist bereits Teil des Problems.
Doch auch wenn der moderne Antisemitismus den Kern unseres Beitrags zum heutigen Tag
darstellt, wollen wir auch einen Blick über den thematischen Tellerrand wagen. Gerade jetzt
sehen wir, wie von reaktionären Kräften mobil gemacht wird. Mobil gegen das angebliche
Schlechte. Wenn erklärte Neonazis und angebliche Bürger gemeinsam gegen
Asylbewerberheime und Refugees auf die Straße gehen, wenn diesselbe reaktionäre Allianz
unter dem Namen „Hooligans gegen Salafisten“ den Kampf gegen den Terror des
Islamischen Staats instrumentalisiert, um ihre rassistische, menschenverachtende Logik
salonfähig zu machen, dann sehen wir es als notwendig an, Antifaschistische Arbeit auch
heute noch kontinuierlich fortzuführen. Wie damals werden wir auch heute unsere Augen
davor nicht verschließen, sondern kämpferisch, konsequent und solidarisch gegen
Rassismus, Antisemitismus und Faschismus vorgehen und streiten, für eine befreite
Gesellschaft.
In diesem Sinne…
Wehret den Anfängen!
Nie wieder Faschismus!

Gedenkfeier_b

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