Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus


Ansprache auf dem Reutlinger Friedhof „Unter den Linden“ von Lothar Letsche
20.11.2022

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Thomas Keck,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,

I.

wir stehen vor der Grabstätte von 128 Häftlingen aus 15 Nationen, deren Leichname aus den KZ-Außenlagern Hailfingen/Tailfingen, Bisingen, Dautmergen und Schömberg im Reutlinger Krematorium zwischen Oktober 1944 und Januar 1945 verbrannt wurden. Auf einer Tafel, die 2010 von der Stadt angebracht wurde, stehen ihre Namen. Ihrer wollen wir heute zuerst gedenken. Für die letzte Anstrengung der Nazis, das Ende des von ihnen vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkriegs hinaus zu zögern, mussten diese Menschen sich zu Tode schuften. „Herzmuskel- und Kreislaufschwäche“ standen auf ihren Totenscheinen. Hunger und Entkräftung waren der wirkliche Grund.

Zwischen Rottenburg-Hailfingen und dem heutigen Gäufelden-Tailfingen wurde von 700 meist jüdischen Arbeitskräften, die aus Auschwitz angefordert wurden, unter mörderischen Bedingungen ein Flugfeld gebaut. Die anderen KZs gehörten zum Projekt „Wüste“. Das war ein Versuch, für den erhofften „Endsieg“ aus dem Steinschiefer noch irgendwie Erdöl herauszuholen.

In Hailfingen-Tailfingen hatten 99 der hier Beigesetzten den Tod gefunden. 15 weitere endeten im Krematorium Esslingen, 75 in einem Massengrab bei der Landebahn und später auf dem Tailfinger Friedhof.

Der Reutlinger Totengräber berichtete später, wie es ablief:

„In der Zeit von etwa August/September 1944 bis 14. Januar 1945 kam etwa jede Woche mit nur kurzen Unterbrechungen (Montag oder Samstag) ein Lastwagen der Organisation Todt und brachte 10-12 Holzkisten enthaltend je zwei nackte männliche Leichen. (. .. ) Die Transporte wurden von einem SS-Offizier geleitet und von 4 Männern begleitet …. Diese Häftlinge verbrachten die Kisten mit den Leichen ins Krematorium. (. . .) Die Verbrennung
dieser Leichen erfolgte immer getrennt von anderen Verbrennungen.
Trotz [anderslautenden] Befehls zerstreuten [wir] die Asche der Häftlinge nicht, sondern sammelten die Asche und verbrachten sie in ein Grab der Abteilung Y des städt[ischen] Friedhofs. Nachdem das erste Grab gefüllt war, wurde ein zweites Grab angelegt. […] Am 15. Januar wurde das Krematorium durch Luftangriff beschädigt und stillgelegt. Die beiden Aschengräber wurden zugedeckt und wie andere Gräber gerichtet und gepflegt.“ Später wurden sie an die heutige Stelle umgebettet.

 

II.
Ich möchte ein Gedicht vortragen aus einem 1948 erschienenen Gedenkbuch für „Die Toten von Dachau“. Es ist von Josef Eberle. Er war von 1945 bis 1971 Mitherausgeber der „Stuttgarter Zeitung“, und ist eher bekannt als Autor schwäbischer Mundartgedichte unter dem Namen Sebastian Blau. 1933 war er zeitweise auf dem Heuberg inhaftiert. 1936 bekam er Schreibverbot als Schriftsteller. Um kurz vor dem Kriegsende seine jüdische Frau Else Lemberger vor dem Bombenkrieg und der Deportation zu bewahren, versteckten sich die beiden im heute nicht mehr bestehenden Bahnhof Stuttgart-Wildpark, dessen Vorsteher sie schützte. Erst Jahrzehnte später wurde das öffentlich gemacht – vor kurzem wieder in einem Fernsehfilm über Eisenbahner im Widerstand.
„Die Toten an die Lebenden“ ist es überschrieben.

Ihr habt es nicht gewusst, was uns geschehen?
So hoch war nicht der Lagerzaun, so stumm
das Sterben nicht, dass unser Hilfeflehen
im Kampf der Schüsse musste untergehen …
Ihr habt es nicht gewusst – warum? warum?

Ihr hörtet nicht den Schrei der Totenkammern,
der welterschütternd bis zum Himmel stieg,
der Kinder Wimmern und der Alten Jammern,
mit dem sich Sterbende ans Leben klammern –
ihr hörtet nichts. Ihr brülltet Heil und Sieg!

Ihr sahet nicht die Berge unsrer Leichen
und nicht der Öfen himmelhohe Glut,
den Hunger nicht und nicht die Angst der bleichen
Gesichter und der Leiber Folterzeichen –
ihr saht bewundernd nur den Gesslerhut.

Ihr rocht auch nicht den Brandgeruch der Essen,
denn eure Sinne waren abgestumpft.
Und rühmtet ihr euch nicht – habt ihr’s vergessen? –
des Herzens Härte am Granit zu messen?
Ihr habt euch – wir sind Zeugen! – übertrumpft.

Ihr wusstet nichts. Lasst uns den Streit beenden:
Es sei! Wir führen nicht wie Krämer Buch.
Die Zukunft aber liegt in euren Händen,
an euch ist’s, unser Leid zum Glück zu wenden —
wir spenden beides: Segen oder Fluch ….

III.

Das Denkmal, vor dem wir stehen, hat 1952 der Reutlinger Bildhauer Richard Raach geschaffen. Da steht: „Den Opfern der Gewalt“. Es dauerte 58 Jahre, bis am 7.6.2010 die Tafel mit den Namen der hier Bestatteten und den Umständen ihres Todes von der Oberbürgermeisterin Barbara Bosch eingeweiht wurde.

Wie das ablief, das ist ein Stück Geschichte der Erinnerungskultur, aber auch der Organisation, die diese Gedenkfeier durchführt, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die heute den Zusatznamen Bund des Antifaschistinnen und Antifaschisten führt.

Am 30. August 1947 wurde die VVN für das Gebiet Württemberg-Hohenzollern im „Museum“ in Tübingen gegründet. Mein Vater Curt Letsche war mit dabei.

So wurden damals die Aufgaben der VVN definiert:
„1. Die breitesten Bevölkerungsschichten, insbesondere die Jugend über die faschistischen Verbrechen zu unterrichten,
2. den tapferen offenen Kampf der deutschen Widerstandsbewegung aufzuzeigen und zu würdigen,
3. den Kampf gegen alle ideologischen Reste des Nazismus, des Militarismus und der Rassenlehre systematisch zu führen, um dadurch den Völkerfrieden zu sichern und jeden Versuch neuer faschistischer Betätigung zu unterbinden,
4. die Zusammenarbeit aller antifaschistischen, demokratischen Kräfte zu stärken und aufzubauen.“

Dementsprechend breit waren die damaligen Gedenkfeiern angelegt. Damals bemühten sich viele Deutsche, Mitglied in der VVN zu werden, war das doch ein Leumundszeugnis für nichtfaschistische Haltung.

Aber der Kalte Krieg, die Spaltung Deutschlands, die damit verbundenen Konflikte machten natürlich keinen Bogen um die VVN. Der SPD-Vorstand verfügte 1948 einen Unvereinbarkeitsbeschluss, der formal bis 2010 galt.

Im Kabinett des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der im Bundeskanzleramt von hochbelasteten früheren Nazis umgeben war wie dem Kommentator der Nürnberger „Rassengesetze“ Hans Globke, stand am 3. Februar 1950 sogar der Punkt „Spaltung der VVN“ auf der Tagesordnung.

Eine solche Abspaltung hatte in Tübingen bereits im März 1948 stattgefunden. Einige Vorstandsmitglieder traten aus der VVN aus, weil sie eine kommunistische Linie verfolge und sich nicht auf Betreuungsaufgaben beschränke. Das „Schwabenecho“, das Organ des Vorläufers der FDP, verkündete in seiner Ausgabe vom 16.03.1948 „das Ende der VVN Südwürttembergs“. Es wurde versucht, den sozialdemokratischen Gewerkschaftssekretär Albert Blon aus Reutlingen dafür zu vereinnahmen. Der wandte sich gegen die Verwendung seines Namens und „gegen die Spaltung der VVN in Parteirichtungen“ und dagegen, in einem solchen Rahmen „ihn für die SPD vorzuschlagen.“ Er sei Sozialdemokrat, „aber in der VVN ist er zunächst Kamerad“, heißt es im entsprechenden Sitzungsprotokoll. Albert Blon ließ sich als 2. Vorsitzender in den VVN-Landesvorstand nachwählen.

Es folgte 1950 der „Adenauer-Erlass“ – ein direkter Vorläufer der späteren Berufsverbote. Er bereitete nicht nur das KPD-Verbot vor, sondern richtete sich auch ausdrücklich gegen die VVN. Beamte und andere Beschäftigte des Staates, die dort Mitglied waren, wurden vor die Entscheidung gestellt: entweder die VVN zu verlassen oder Entlassung.

Vielleicht war das für eine solche Persönlichkeit wie den vorhin mit dem Gedicht zitierten Josef Eberle ein Grund für seine spätere publizistische Zurückhaltung in solchen Fragen.

Das war die Situation, als die VVN am 8.10.1951 bei der Stadt Reutlingen die würdige Beisetzung der Asche der KZ-Häftlinge beantragte. Die Organisation wurde damals repräsentiert von Fritz Wandel, KPD-Stadtrat und nach der Befreiung einer der drei Stellvertreter des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters Oskar Kalbfell. Wandel war der Hauptredner der Kundgebung am 30. Januar 1933 beim Mössinger Generalstreik gegen die Machtübertragung an Hitler gewesen. Nach seinem Rückzug aus politischen Ämtern wegen Gesundheitsproblemen im Jahr 1948 arbeitete er bei der Friedhofsverwaltung. Zusammen mit Emil Bechtle und Albert Fischer hatte er den Reutlinger VVN-Kreisverband gegründet. Alle waren sie selber durch die Hölle von Nazi-KZs geschleppt worden.

Die Verwaltungsabteilung der Stadt Reutlingen war der Meinung, die würdige Ausgestaltung eines solchen Mahnmals sei eine Selbstverständlichkeit. Die Technische Abteilung überwies die Sache aber an den Gemeinderat, der es am 28.02.1952 behandelte. Dort kam sofort Gegenrede: für „diese Art Kriegsopfer“ gebe es doch bereits ein Mahnmal in Bisingen. In der Tat – das hatte die französische Besatzungsmacht errichten lassen und bis 1990 kümmerten sich die Franzosen auch darum.

In Reutlingen müsse eine – Originalton – „wirkliche Gedenkstätte“ für „alle Opfer des Nationalsozialismus“ errichtet werden, hieß es von Gemeinderatsmitgliedern, wozu „auch alle im Krieg Gefallenen und alle diejenigen, die in Kriegsgefangenschaft und auf der Flucht bzw. bei der Ausweisung aus ihrer Heimat ums Leben gekommen sind“. Die Reutlinger Aschenreste der KZ-Opfer solle man nach Bisingen abtransportieren. Einer der Redner nannte das – mit Recht – „eine kolossale Beleidigung der Opfer des Faschismus“. OB Kalbfell versuchte zu beschwichtigen und sprach von „Teilereignissen aus einem furchtbaren Geschehen“. Die in Reutlingen Verbrannten könne man nicht woanders hin verlegen. Um aber keiner „Pietätlosigkeit gegenüber anderen Kriegsopfern“ geziehen zu werden, wies der OB auf ein damals erst noch zu errichtendes „Kriegerdenkmal“ hin. Einige Stadträte beteuerten sehr heftig, von den Verbrennungen im Reutlinger Krematorium und überhaupt von den Naziverbrechen hätten sie erst nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft erfahren. Für „alle Opfer der Unmenschlichkeit“ solle „nur ein einziges Denkmal errichtet werden“. Zitat: „Wir leben in einer sehr schnellen und kurzlebigen Zeit! Wer weiß, wie man in 5 oder 10 Jahren über einen solchen Beschluss des Gemeinderats denken würde.“

OB Kalbfell erinnerte daran, dass die Rede sei von „Taten, die von Deutschen planmäßig durchgeführt wurden, während in den anderen Fällen fremde Mächte die Verantwortung zu tragen haben“. Der bereits erwähnte SPD-Stadtrat Albert Blon erinnerte „die FDP daran, dass auch aus ihren Reíhen Männer in den KZs waren“. Ein Stadtdirektor erinnerte daran, dass „die Menschen, die in Frankreich, Russland usw. umgekommen sind, […] nicht auf dem Friedhof in Reutlingen begraben“ sind. Diejenigen, die hier verbrannt wurden, seien „lediglich aus ihrer politischen Gegnerschaft in die Lage gekommen. Man hat sie systematisch beseitigt.“ Der Gemeinderat habe hier heute und nicht irgendwann später eine Aufgabe zu erfüllen.

Trotzdem wurde von der Mehrheit darauf insistiert, „alle Opfer des Nationalsozialismus in einer Tafel zu vereinigen“. Mit 11 zu 9 Stimmen wurde das Mahnmal in der ursprünglichen Form beschlossen. Keinerlei Namen wurden damals genannt.

So oder ähnlich lief das leider nicht nur in Reutlingen ab. Noch jahrzehntelang.

Wenn die VVN sich gegen solche Formen der Verdrängung und des Beschweigens der Mitverantwortung für die Verbrechen des deutschen Faschismus öffentlich wehrte, konnte es da und dort geschehen, dass ein öffentliches Gedenken verboten oder die VVN explizit ausgeschlossen wurde. Oder sie mit ihren eigenen Gedenkfeiern isoliert da stand.

IV.

Hailfingen-Tailfingen betreffend, begann erst in den 1980er Jahren die wirkliche Aufarbeitung der Geschichte dieses KZ. Bei den Namen der Opfer wollte die Stadt Reutlingen es lange Zeit bewenden lassen mit einem Eintrag im offiziellen Gedenkbuch. Erst als Angehörige der jüdischen Opfer vergeblich nach Spuren auf dem Friedhof suchten, nach langen und schwierigen Debatten, wurde der Forderung der VVN-BdA, des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.”, des DGB, der SPD, und der GRÜNEN endlich entsprochen, an dem Grabmal selbst die Namenstafel anzubringen.

Von Anfang an hat die VVN alljährlich die Gedenkfeiern an diesem Grab ausgerichtet. Die Stadt Reutlingen ist wieder beteiligt. Diese Gedenkfeier zu einem allgemeinen Kriegsgedenken umzudeuten oder damit zu vermischen, wäre nicht nur für die VVN-BdA indiskutabel.

Es ist gut, dass die Erinnerung an die an die Naziopfer und den Widerstand schon lange kein Alleinstellungsmerkmal der VVN mehr ist, dass antifaschistische Erinnerungsarbeit heute – wieder! – ein breites zivilgesellschaftliches Anliegen ist, dem sich viele Menschen verpflichtet fühlen und für das sie sich engagieren.
Die Gründerinnen und Gründer der VVN wollten verhindern, dass jemals wieder ein Krieg von deutschem Boden ausgeht. Das steht auch im „2 plus 4“-Vertrag von 1990.
Was hätten die Überlebenden der Naziverfolgung zur heutigen Weltlage gesagt?
1999 zum Bombenkrieg auf Jugoslawien, um angeblich ein „neues Auschwitz“ zu verhindern, gab es deutliche Worte von jüdischen Überlebenden des Holocaust: „Erst Faschismus und Krieg hatten Auschwitz möglich gemacht.“
Die Ereignisse in der Ukraine, nicht erst seit dem russischen Angriff am 24. Februar, hätten unsere Gründergeneration zweifellos sehr bekümmert. Es war die Rote Armee gewesen, mit Russen, Ukrainern und vielen anderen Nationalitäten der Sowjetunion, die Auschwitz, Sachsenhausen, Ravensbrück und viele andere Nazi-KZs befreite. Zweifellos hätten unsere Gründerinnen und Gründer den Einsatz aller, wirklich aller diplomatischen Möglichkeiten, auch und gerade Deutschlands mit deiner Geschichte, gefordert, damit unverzüglich die Waffen schweigen, damit das Schießen und Sterben sofort aufhört, und die zugrunde liegenden Konflikte anders gelöst werden. „Nicht den Krieg, sondern den Frieden gewinnen“, habe ich gestern als Motto von Henning Zierock auf einem Transparent in Tübingen gelesen.
Lasst uns im Sinne der Überlebenden gemeinsam weiterhin zusammen wirken gegen Nazismus, Rassismus, Antisemitismus. Nationalismus, für Frieden und Demokratie – nicht nur bei Gedenkfeiern und bei der Geschichtsarbeit, sondern auch in politischen Veranstaltungen und Kampagnen, und wenn es sein muss, auf der Straße.

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